Zum Selbstbild unserer kommunikationsfreudigen Gesellschaft passt das Ressentiment überhaupt nicht. Denn unsere Gesellschaft gibt viel auf Information und Unvoreingenommenheit. Wer auf sich hält, hat keine Vorurteile – und natürlich keine Ressentiments.
Ressentiments sind mehr als nur Vorurteile. Während das Vorurteil blosses Desinteresse und Unkenntnis zum Ausdruck bringen kann, gehört zum Ressentiment die herabsetzende Ablehnung.
Gruppendynamik
Gruppen sind dafür besonders anfällig. Indem Ressentiments gegen andere Gruppen gerichtet werden, wird die Identität der eigenen Gruppe gestärkt: „Was immer wir auch sein mögen, wir sind auf jeden Fall den anderen überlegen.“
Das Ressentiment kann geradezu als Identitätsersatz dienen. Eine Gruppe kann so zerstritten sein, wie sie will, wenn sie sich gegen eine andere zusammenschliessen kann, erlebt sie Einigkeit. Eine Gruppe muss nicht wissen, wofür sie ist, solange sie weiss, wen sie ablehnt. Wer ihre Ressentiments auflösen will und argumentiert, mag intellektuell im Recht sein, emotional aber hat er keine Chance. Denn er zerstört genau das, was sich eine Gruppe unter gar keinen Umständen zerstören lassen will: das aus Gegnerschaft gespeiste Zusammengehörigkeitsgefühl.
Wiedererstarken des Ressentiments
Da fast jeder ständig physisch oder zumindest virtuell unterwegs ist und dadurch mit unterschiedlichsten Gruppen zu tun hat, müssten Ressentiments eigentlich der Vergangenheit angehören. Denn die allermeisten Köpfe sollten flexibler geworden sein und sich gegen das starre Denken in Gegensätzen wehren. In manchen Bereichen setzen sich solche Sichtweisen auch durch, zum Beispiel wenn es um Veränderungen in der Sexualmoral geht.
Umso verstörender ist, dass wir weltweit das Wiedererstarken von Ressentiments erleben. Eine Erklärung dafür ist einfach und nachvollziehbar: Gerade weil die Menschen in der Globalität das Gefühl haben, sich zu verlieren, suchen sie Halt in Gruppen, die sich durch lokale oder mentale Abgrenzung gegen andere stabilisieren.
Die Moralisierung
Diese Erklärung ist nachvollziehbar. Jeder Trend erzeugt schliesslich einen Gegentrend. Der Trend zur Ausweitung erzeugt den Trend zum Rückzug. Allerdings wird mit dieser Erklärung die Tatsache übersehen, dass der Rückzug auf das Lokale nicht automatisch Ressentiments erzeugen muss. Vielmehr könnte ganz im Gegenteil damit eine wohlwollende Toleranz gegenüber anderen in ihren lokalen Bereichen und Lebenskreisen verbunden sein.
Das Wiedererstarken des Ressentiments hat daher mit einem anderen Trend zu tun, der nicht weniger stark ausgeprägt ist als der Rückzug auf das Lokale: die Moralisierung. Wir beobachten sie in den Medien, die ständig neuen Stoff für die Empörungsbereitschaft des Publikums liefern. Empörend ist das, was moralisch als anstössig qualifiziert wird. Der Entrüstung folgt der Abschuss, der in den Medien genussvoll zelebriert wird.
Emanzipation von der Moral
Der Vorteil der Moralisierung liegt für die Medien in der Vereinfachung. Wenn komplexe Sachverhalte auf die Frage nach Gut und Böse reduziert werden, versteht jeder etwas davon und man hat entsprechende Einschaltquoten oder Konsumentenzahlen. Moralisierung ist dann gerechtfertigt, wenn gegen Pflichten, Recht und Gesetz verstossen wird. Aber viele Sachverhalte sind viel zu komplex, um nach einfachen Moralschemata beurteilt zu werden. Es gibt eben nicht nur die Logik der Moral.
Anders hätte sich unsere Gesellschaft nicht entwickeln können. Sie musste sich in Teilen auch von der Moral emanzipieren. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Tatsache, dass das christlich motivierte Zinsverbot zu Beginn der Neuzeit aufgehoben wurde. Nur so konnte sich die moderne Wirtschaft entfalten. Genauso folgt die Forschung ihrer eigenen Logik, ebenso die Technik. Die Moral kommt erst dann wieder ins Spiel, wenn diese Systeme quasi „entgleisen“ und ungewollte Nebenwirkungen wie etwa Umweltschäden oder Unfälle zur Folge haben.
Verzerrter Blick
Im Alltag haben wir gelernt, zwischen moralischen Fragen und der moralfreien Bewertung von Vor- und Nachteilen zum Beispiel bei Kaufentscheidungen zu unterscheiden. Wir beschäftigen uns mit technischen Details, den Bedingungen von Verträgen oder der Qualität von Lebensmitteln zunächst auf der Basis der Informationen, die mit den jeweiligen Produkten oder Angeboten direkt zusammenhängen. Wenn die Moral ins Spiel kommt, dann erst in zweiter Linie, indem wir etwa nach der Reputation eines Unternehmens oder der Herkunft von Produkten fragen.
Wird aber die Moral bei komplexen Sachverhalten an die erste Stelle gesetzt, entsteht ein völlig verzerrter Blick. Das schwierig zu verstehende Räderwerk der Wirtschaft, der Verwaltung, wissenschaftlicher, technischer oder politischer Vorgänge wird dann so betrachtet, als müsse jedes einzelne Element und jeder einzelne Ablauf jederzeit nach dem Schema von Gut und Böse bewertet werden können. Das ist so, als würde ein Chirurg noch während der Operation der Körperverletzung bezichtigt werden.
Endlose Litanei
Zum Ressentiment wird diese Moralisierung dadurch, dass diejenigen, die sie vornehmen, sich selbst automatisch auf die Seite des Guten stellen. Und plötzlich ist die komplexe Welt übersichtlich geordnet: „Wir und die bösen Banker. Wir und die unfähigen Politiker. Wir und die weltfremden Technokraten.“ - In diesem Schema muss man von der Welt eigentlich gar nichts verstehen, um sich selbst auf der Seite der Guten zu wissen und sich haushoch überlegen zu fühlen.
Deswegen kann auch in endlosen Litaneien wiederholt werden, wie unfähig die Politiker, wie töricht und gierig die Banker und wie debil die Technokraten sind. Man kann ihnen alle Übel dieser Welt zurechnen, weil man von seiner eigenen hohen Warte aus die Frage, ob und wie man es selber besser machen würde, gar nicht erst stellt.
Bei nüchterner Betrachtung müssten wir eigentlich annehmen, dass diese Art der Moralisierung viel zu primitiv ist, um in unserer Gesellschaft noch eine nennenswerte Rolle zu spielen. Wie wir wissen, ist das Gegenteil der Fall. Wer moralisiert, hat Erfolg. Die Moralisierung und das damit verbundene Ressentiment schaffen eine erlösend einfache Welt.
Die Drogenhändler
Natürlich ist diese Welt nur scheinbar einfach, und diejenigen, die sich in ihr zurechtzufinden glauben, leben in einer Illusion. Man kann diese Illusion durchaus mit dem Effekt von Drogen vergleichen. Drogen erzeugen zeitweilig das Gefühl grosser Macht und überragender Intelligenz. Und man kann in denjenigen, die das Mittel der Moralisierung und des damit verbundenen Ressentiments benutzen, eine Art von Drogendealern sehen.
Die Drogenhändler nehmen selbst nicht die Drogen, die sie verkaufen. Eben so wenig glauben jene Politiker und Journalisten, die Ressentiments schüren, an die Parolen, die sie berechnend einsetzen. Sie wollen doch bloss Zustimmung, Wähler, Leser, Beifall. Sie selbst sind schwach, denn sonst hätten sie solche Mittel nicht nötig. Und bei manchen Journalisten kommt noch eine weitere Besonderheit hinzu:
Seitenwechsel
Auf der einen Seite verbreiten sie Ressentiments, schiessen aus allen Rohren auf die vermeintlichen Verursacher aller Übel, aber dabei zwinkern sie mit den Augen und empfehlen sich gleichzeitig als deren Propagandisten. Auf den ersten Blick ist das schwierig zu verstehen, denn normalerweise reagiert derjenige, der angeschossen wird, nicht mit Aufträgen. Beim Spiel mit Ressentiments aber ist das anders. Der Journalist macht auf sich aufmerksam. Ein stärkeres Mittel als das Ressentiment gibt es nicht. Und nun hofft er darauf, dass der vermeintliche Gegner weiss, dass er als Journalist jederzeit die Seite wechseln kann. Die Logik für den „Gegner“: Dient es nicht seiner Reputation, wenn er denjenigen in Dienst nimmt, der vorher so lauthals gelärmt hat? Ist es nicht toll, wenn eine Partei oder eine Bank denjenigen „ins Boot holt“, der am lautesten gegen sie krakelt hat?
Es gibt Politiker, die diesen Aberwitz noch steigern. Das sind jene, die die Ressentiments gegen Ausländer, gegen das grosse Kapital und die Verschwendungssucht der Reichen mobilisieren, selber aber wirtschaftliche Global Player sind und ihren Lebensstil ohne die Vorteile multinationaler Verflechtungen gar nicht aufrechterhalten könnten. Sie reden völlig anders, als sie leben, und bemühen sich noch nicht einmal, diesen Widerspruch zu verbergen.
Fatale Wucht
Der immer mögliche Seitenwechsel der Journalisten und das Doppelleben der Politiker machen klar, dass das kalkulierte Spiel mit Moralisierung und Ressentiments überhaupt nichts mit tief verwurzelten Überzeugungen zu tun hat. Woher sollte diese Verwurzelung auch kommen? Die blosse Moralisierung von komplexen Sachverhalten kann zu keinen belastbaren Überzeugungen führen. Die ständige Wiederholung von Pauschalurteilen bringt keinerlei Erkenntnisgewinn. Sie ist wie das Trommeln im Busch. Und das Augenzwinkern als Signal, dass man durchaus auch anders könnte, ist nicht gerade charakterbildend.
Der Soziologe Niklas Luhmann hat immer wieder darauf hingewiesen, dass es Aufgabe der Moral sein könne, vor den Folgen der Moral zu warnen. Damit meinte er, dass die Einteilung der Welt in Gut und Böse, wir und die anderen, die Gierigen und die vermeintlich bescheidenen Normalbürger zu Frontstellungen mit fatalen Konsequenzen führt. Weltweit sehen wir Konflikte, die schon eskaliert sind oder zu eskalieren drohen. Ohne planmässig oder auch nur unwillentlich geschürte Ressentiments hätten sie nicht ihre fatale Wucht. Deswegen sollte ein Sensorium für die Gefahren der Ressentiments entwickelt werden. Denn Ressentiments sind toxisch.