Das Bildarchiv beginnt langsam – im wörtlichen Sinne. Die Apparate waren bis zum Aufkommen der Mittelformat- und Kleinbildfotografie sperrig und umständlich zu bedienen, und während der Aufnahmen durften sich die abzubildenden Personen - jedenfalls in den Anfängen der Fotografie - nicht bewegen. Die Fotografen benutzen Glasplatten, die mit dem lichtempfindlichen Bromsilber beschichtet waren.
Aber die Umständlichkeit und die Dauer der Aufnahmen haben auf ihre Weise Fussabdrücke in der Zeit hinterlassen. Es ist etwas Besonderes, eine solche Glasplatte aus einer der Schachteln im Fotoarchiv von Keystone zu ziehen und sie gegen das Licht zu halten. Unglaublich, wie auch nach mehr als 100 Jahren feinste Konturen gezeichnet sind. Die Glasplatten erzeugen eine geradezu verblüffende Gegenwart.
Zeit zum Nachdenken: Es erfordert einen enormen Aufwand, Dokumente der Vergangenheit aufzubewahren. Und noch mehr Aufwand erfordert es, diese Dokumente zu klassifizieren, zu katalogisieren und sie in jeweils passende Behältnisse zu bringen. Dazu kommt das Problem: Wer wird sich wann, wenn überhaupt, für welches Foto interessieren?
Diese Frage ist nicht akademisch, denn sie betrifft eine Fotoagentur, die im Tagesgeschäft ihr Geld verdient. Der Unterhalt eines Archivs liesse sich ohne Gesichtsverlust limitieren: „Wir haben nur Bilder bis vor zehn Jahren.“ Aber Keystone hat mehr als 150 Jahre im Archiv!
Die Pointe besteht allerdings darin, dass der Wert der Bilder von heute nur gesichert werden kann, wenn man die Bilder von gestern ernst nimmt. Denn sonst hätten die Gegenwartsbilder nur eine Tagesaktualität, deren Wert sich ausschliesslich an den gerade gültigen Tarifen bemisst. Eine Fotoagentur wie Keystone muss eine andere Perspektive haben: Kontinuität. Die heutigen Fotografen setzen ein Werk fort, das mit dem Beginn der Fotografie begonnen hat. Diese über das Kommerzielle hinausgehende Bedeutung ihrer Arbeit zeigt sich auch am Interesse an den Werken ihrer Vorgänger.
Daher dokumentiert das Archiv die Fotografie von ihren Anfängen an. Man kann diese ersten Spuren leicht verfolgen, denn die Archivare haben die Bilder auch nach ihrer Entstehenszeit erfasst und sie jeweils nach Dekaden katalogisiert. So kann man auf den Zeitraum von 1860 bis 1870 zugreifen und wird dort zum Beispiel erste fotografische Porträts von Berühmtheiten wie Richard Wagner finden.
Ein umfangreiches Archiv wie das von Keystone erfordert eine mehrdimensionale Erschliessung. Man muss die Bilder also unter ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten finden können: Man möchte gezielt nach Personen suchen, man braucht Bilder von herausragenden Ereignissen oder man interessiert sich für Landschafts- oder Städtebilder aus ganz bestimmten Epochen.
Die drei Archivare unter der Leitung von Alex Anderfuhren haben dafür äusserst praktische Zugriffsmöglichkeiten geschaffen. Fast möchte man von einer neuronalen Vernetzung sprechen.
Die Systematik lässt sich auf der Website von Keystone auf den ersten Blick erkennen. Für Ansicht und Zugriff auf die Archivbilder braucht es allerdings ein Login für die Keystone-Datenbank. Bereits bei einem ersten Eindruck zeigt sich etwas ganz Wesentliches: die Vernetzung des Archivs mit anderen Archiven.
An erster Stelle ist das Archiv der Fotostiftung Schweiz zu nennen. Das wiederum lässt sich ohne speziellen Zugang auf der Website der Fotostiftung anschauen: www.fotostiftung.ch/bilddatenbank
Kooperationen mit Archiven wie Roger-Viollet, Rue des Archives, Imagno, der Süddeutschen Zeitung und AP leisten einen Beitrag dazu, dass der weitgehend auf die Schweiz beschränkte Themenbereich von Keystone international erweitert wird. Das Photopress-Archiv wiederum ist Teil des Keystone-Archivs. Photopress war die erste grosse Bildagentur in der Schweiz und bestand von 1932 bis 1980.
Wichtige kulturelle Akzente werden zusätzlich durch die Archive von James Joyce, Thomas Mann, Robert Walser und der Fotostiftung Schweiz gesetzt.
Im Keystone-Archiv kann man nicht nur gezielt nach einzelnen Fotografen, Regionen und Themengebieten suchen, sondern auch nach technischen Merkmalen wie „Glasplatte“ oder „Photochrom“. Beim „Photochrom“ handelt es sich um Bilder, die ursprünglich in Schwarzweiss aufgenommen waren und dann in aufwendigen Druckverfahren nachträglich coloriert wurden. Das Verfahren wurde Ende des 19. Jahrhunderts von der Firma Photoglob in Zürich entwickelt. Diese Bilder gehören zu den beeindruckendsten Schätzen des Archivs und auf der Internetseite sind derzeit etwa 4.000 von ihnen zu sehen.
Die Internetpräsenz mit den sieben Millionen von systematisch erschlossenen Fotos ist beeindruckend. Aber die restlichen vier Millionen Bilder stellen noch eine gehörige Aufgabe dar. Dazu muss man sich Folgendes vorstellen: Die elf Millionen Bilder haben ganz unterschiedliche „Träger“. Es gibt die erwähnten Glasplatten, es gibt Abzüge bzw. Prints, es gibt Negative und die Dias, seit den 70er Jahren bis zum Aufkommen der Digitalfotografie in der Themenfotografie bevorzugt verwendet wurden. Wir haben es also mit einer Vielzahl von Trägern und Formaten zu tun.
Eine Art Weltkulturerbe
Das alles befindet sich wohlgeordnet in meterhohen Stahlregalen, die dicht an dicht stehen, mit speziellen Kurbeln bewegt werden und eine Gesamtfläche von 300 Quadratmetern füllen. Die genaue Erschliessung dieser Bilder und ihre Digitalisierung ist in vollem Gange. In einzelnen Bereichen ist sie abgeschlossen, so dass man nicht nur „Sport“ ganz allgemein zum Beispiel in den 1990er Jahren hat, sondern noch genau die Sportarten, die Austragungsorte, die Sportler etc. - Man muss nicht erklären, dass das eine Herkulesaufgabe ist.
Ein solches Archiv verursacht erhebliche Kosten für den Unterhalt und die Erschliessung. Mit dem Verkauf der Nutzungsrechte an einzelnen Bildern wird ein Teil davon gedeckt. Man kann auch sagen, dass Keystone und seine Träger bereit sind, sich für den hohen ideellen Wert diese Archivs zu engagieren. Wäre es möglich, müsste es für das Weltkulturerbe vorgeschlagen werden.
Wie wird einmal ein Archiv der digitalen Bilder aussehen? Darüber lässt sich jetzt nur spekulieren. Eines aber ist jetzt schon gewiss: Die digitalen Speichermedien sind nicht annähernd so stabil wie die Glasplatten, Fotopapiere, Filme oder Dias. Man wird immer wieder umkopieren müssen, um die digitalen Bilder zu erhalten. Das Problem ist bis heute noch nicht zufriedenstellend gelöst.
Das Journal21 wird in Kürze zwei Mal in der Woche Bilder aus dem Keystone-Archiv vorstellen.