Der Begriff „Architekturfotografie“ weckt zunächst Assoziationen an Bilder, bei denen es sich im Wesentlichen um eine optimale Darstellung von Gebäuden handelt. Das ist eine Sache von Spezialisten, und man erwartet von diesen Bildern keine grossen Überraschungen.
Dem Direktor des Fotomuseums Winterthur, Urs Stahel, und dem Kurator der Ausstellung, Thomas Seelig, und weiteren Mitarbeitern ist es aber gelungen, mit ihrem Konzept eine Dynamik zu erzeugen, der man sich nicht entziehen kann. Nach 132 Ausstellungen des Fotomuseums Winterthur in den vergangenen 20 Jahren kann man den Eindruck haben, als sollte diesmal das Beste aus diesen Erfahrungen zur Geltung gebracht werden.
Wie ist das gelungen? Es wurden zwei unterschiedliche Zugänge gewählt, denen einzelne Themen gewidmet sind. So beginnt die Ausstellung mit der Thematisierung von Architektur unter spezifischen Gesichtspunkten: „Tour d´Horizon: von Talbot bis Koolhaas“, „Aufbau, Verfall, Zerstörung“, „Macht, Abgrenzung, Sicherheit“, „Modell Simulation, Architektur auf Zeit“, „Stein, Stahl, Glas“, „Haus, Heim, unheimlich“ und "Siedlungen, Transiträume, Metropolen“. Auf diese Weise wird nicht nur der Blick auf die Geschichtlichkeit der Architektur und das Schicksal ihrer Werke gelenkt, sondern zugleich wird auch der Zugang der Fotografen zum Thema der Ausstellung: Was wollten sie mit ihren Bildern zum Ausdruck bringen, welche Zwecke verfolgten sie und welcher Mittel bedienten sie sich?
Der zweite Zugang ist regional und umfasst sieben Städte: Berlin, Chandigarh, Paris, New York City, Venedig, Zürich und Winterthur. Und so kann man beim Thema New York – das ist ein Beispiel von vielen – ein Foto von Paul Strand, das er 1915 von der Wall Street aufgenommen hat, neben neueren Bildern sehen. Die Geschichte der Fotografie und die Geschichte der Architektur verquicken sich und erzählen von der Geschichte des Sehens.
Denn das ist ein wichtiger Punkt der Ausstellung. Architektur entspringt spezifischen Deutungen und Wahrnehmungen unserer Welt und unseres Lebens. Sie bringt diese Deutungen zum Ausdruck; man denke nur an die Vorstellungen eines Le Corbusier von einem effizient organisierten Leben. In der Ausstellung kann man übrigens sehen, welche in Beton gegossenen Albträume daraus entstehen konnten. Die Fotografen wiederum haben ihre Vorstellungen, die die Wahl der fotografierten Objekte, die Perspektive und den Bildausschnitt bestimmen.
Dass dieses Zusammenspiel sehr weit gehen kann, wird in der Abteilung „Modell, Simulation, Architektur auf Zeit“ gezeigt. Da gibt es zwei Abbildungen aus dem Film „Mon Oncle“, den Jacques Tati 1959 gedreht hat und der mit einem Oskar prämiert wurde. Da denkt man dann sofort an die fantastischen Kulissen anderer Filme von Fritz Langs „Metropolis“ bis zu den James-Bond-Filmen. Davon sind keine Bilder in Winterthur zu sehen, aber das hindert nicht, die Verbindung zwischen der Architektur im gelebten Leben und in der dieses Leben überschreitenden Fantasie herzustellen.
Überhaupt die Träume und Sehnsüchte, der die Architekten auf ihre Weise Gestalt verliehen: Faszinierend ist, dass auf den Bildern immer wieder Menschen auftauchen, sei es auf Werbefotos der Schuhmarke „Bally“, die wunderbar mit architektonischen Accessoires spielt, oder als nacktes Liebespaar in einer Bildkomposition mit architektonischen Elementen aus dem Jahr 1972.
Es fehlt auch nicht an Provokationen. Besonders stark wirken sie im Themenbereich „Macht, Abgrenzung, Sicherheit“. Er wird mit einem Bild eröffnet, das 1857 vom Portal einer Kathedrale in Nordfrankreich aufgenommen worden ist. Es folgt Andreas Gurskys Foto, "Hong Kong Shanghai Bank" von 1994. Dann sieht man zwei Schlafzimmer in Schlössern auf Fotos von 1898, dann das Arbeitszimmer von Mussolini, die Reichskanzlei, dann beeindruckende massenmediale Inszenierungen der Nazis (wie den oben abgebildeten "Lichtdom"), zwei modernere Kirchen und ganz spezifisch geformte Interieurs wie zum Beispiel die Bar im Landtag von Hannover von 1962. Die dann folgenden Bilder sind auch aufschlussreich, aber die eigentliche Provokation liegt in der erwähnten Sequenz.
Denn gerade hier wird deutlich, wie stark die Architektur und ihre fotografische Darstellung dem jeweiligen Zeitgeist verpflichtet sind und wie mit ihr auf zum Teil fatale Weise Grundbedürfnisse wie Macht und Sicherheit befriedigt werden.
Auch wenn sich die Ausstellung überwiegend auf Fotos konzentriert, stösst man auch auf Videoinstallationen wie etwa beim Thema Zürich. Dort kann man kurze Statements der Stadtbewohner sehen und hören.
Der Begleitkatalog ist auf seine Weise die Krönung der Ausstellung. Er ist nicht nur reichhaltig und mit grosser Sorgfalt ediert, sondern er enthält auch Essays und erläuternde Texte, u. a. von Urs Stahel, der in diesem Jahr seine Arbeit nach zwanzig Jahren am Fotomuseum beendet und sich neuen Aufgaben widmen wird. Man kann ihm zu diesem gelungenen Abschluss nur gratulieren.
Concrete - Fotografie und Architektur
Fotomuseum Winterthur
- März bis 20. Mai 2013