Genauer müsste es heissen: zu sehen, wie sie sieht. In Ausstellungskatalogen und bei anderen Gelegenheiten finden sich Texte mit Beschreibungen und Analysen ihres spezifischen Blicks. Da ist von der Geometrie die Rede, natürlich vom „Goldenen Schnitt“, aber das, was in diesen Bildern pocht, ist der Mensch in seiner Welt, einer Welt, die ihn buchstäblich „gefangen nimmt“.
Die Überzeugungskraft ihrer Bilder liegt in dem Zusammentreffen geometrischer Komposition mit dem, was die dargestellten Menschen – es gibt nur ganz wenige Bilder ohne Menschen als explizite Akteure – in diesem und keinem anderen Augenblick von sich preisgeben. Ein systemtheoretisch geschulter Blick würde immer „System und Umwelt“ erkennen, oder weniger abstrakt formuliert: den Menschen in seinem ihn umgebenden Schicksal.
Es ist sehr wichtig, die Macht des Moments bei den Bildern Barbara Klemms trotz der formalen Perfektion immer mit zu sehen und mit zu bedenken. Denn sie ist eine leidenschaftliche Zeugin.
Über Jahrzehnte hat sie fast rastlos nahe und ferne Länder bereist und war dem deutschen Schicksal auf der Spur: in Zeiten der Teilung und in den hochdramatischen Monaten der „Wende“, also der Wiedervereinigung. Dabei hat sie im Deutschland der Nachkriegszeit Bilder geschaffen, die bis heute wie Ikonen das kollektive Gedächtnis prägen: Willi Brandt mit Leonid Breschnjew in Bonn 1973, umgeben von zahlreichen Beratern, Heinrich Böll in Mutlangen bei den Demonstrationen gegen die geplante Stationierung der Pershing II Raketen 1983, und dann die zum Teil monumentalen Darstellungen der deutschen Wiedervereinigung.
Das sind jene Bilder, die nur jemandem gelingen können, der in zäher und geduldiger Arbeit den Menschen und Ereignissen auf der Spur ist, um für sie den Ausdruck zu finden, der wie ein treffendes Wort beschreibt und bewegt. Bei ihren Auslandsreisen hat Barbara Klemm eng mit den Korrespondenten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zusammen gearbeitet. Zur Vorbereitung ihrer Reportagen bediente sie sich neben der aktuellen Lektüre des Archivs der FAZ. Ein wichtiger geistiger Anreger ist ihr Ehemann, seines Zeichens Psychoanalytiker.
Ihr Vater, Fritz Klemm, Maler und Professor an der Karlsruher Kunstakademie, hat sie für die bildende Kunst interessiert und in die Arbeit der Fotografie einschliesslich der Technik im Fotolabor eingeführt. Nach Abschluss des Realgymnasiums machte sie in einem Karlsruher Porträtatelier eine dreijährige Fotografenlehre, die sie mit der Gesellenprüfung abschloss. 1959 trat sie bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zunächst eine Stelle als Klischee- und Fotolaborantin an.
Seit früher Zeitungslektüre kannte und bewunderte sie Wolfgang Haut. Daher war es für sie besonders reizvoll, eine Tätigkeit in seinem unmittelbaren Umfeld auszuüben. Wolfgang Haut hat mit seinen Bildern nicht nur die täglichen Ausgaben der FAZ geprägt. Noch wichtiger war für ihn die Tiefdruckausgabe „Bilder und Zeiten“ am Samstag. Diese – natürlich schwarz-weisse - Tiefdruckausgabe wurde Ende 2001 eingestellt. Seit November 2006 erscheint wieder ein „Bilder und Zeiten“, aber nicht mehr auf dem speziellen Glanzpapier mit dem aufwendigen Kunstdruck, dafür aber in Farbe.
Wolfgang Haut hat sie ermutigt und gefördert. So arbeitete Barbara Klemm von 1970 bis zu ihrer Pensionierung 2005 als Redaktionsfotografin für die FAZ. In den ersten Jahren war Wolfgang Haut stets derjenige, mit dem sie über ihre Bilder sprach, bevor sie sie an die zuständigen Redakteure weitergab. Sie sagt, dass der Fotograf in seinen Bildern manchmal etwas sieht, das der unvoreingenommene Betrachter nicht wahrnimmt. Es ist wie mit Texten. Der Autor braucht einen Redakteur oder Lektor.
So wie bei Barbara Klemm die „condition humaine“ jeweils in ihrem aussagekräftigen Rahmen dargestellt wird, so fand sie in der Art, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung Bilder einband, den für sie passenden Rahmen. Das Schwarz-Weiss-Bild, von ihr eigenhändig auf Baryt vergrössert und ausgearbeitet, ist ihr Medium des Ausdrucks. Schwarz-Weiss passe besser zur schwarzen Typographie als farbige Bilder, sagt sie. Zudem habe sich das Layout in den vergangenen Jahren vollkommen verwandelt. Die computergestützten Verfahren ermöglichen es heute jedem Redakteur, die Seite selber zu gestalten, was eine grössere Beliebigkeit zur Folge hat.
Die Souveränität der fotografischen Handschrift Barbara Klemms verdeckt die elementare Tatsache, dass sie sich Bild für Bild der Unsicherheit aussetzt. Es sind dies Unsicherheiten verschiedener Art. Banal mögen die technischen Probleme erscheinen, auch wenn sie es in der Praxis nicht sind. Barbara Klemm benutzt keinen Blitz, kein Stativ. Sie arbeitet stets mit dem Kodak Professional TRI-X 400 Film, der sich auf 800 ASA pushen lässt. Das klingt nach viel, aber in schummrigen Gängen, Hotelhallen, Büros oder Verhandlungsräumen ist das sehr wenig.
Nicht alle Fotos hat sie mit der Leica und entsprechend lichtstarken Objektiven machen können. In der Reportagefotografie griff sie zu einer Canon Spiegelreflexkamera. Dazu teilte sie sich mit Wolfgang Haut ein 300 mm Objektiv, das mit Hilfe eines Adapters auf 600 mm aufgerüstet wurde – die optische Qualität ist dann nicht vom Feinsten. Da stand sie dann, fotografierte aus freier Hand ohne Blitz inmitten von Kollegen, denen deren wesentlich komfortablere Technik die Risiken verkleinerten. „Ist was drauf?“, lautete die bange Frage, die sie der Laborantin, die für die Filmentwicklung zuständig war, häufiger stellte.
Die anderen Unsicherheiten liegen in der Begegnung. Gelingt es, genau im richtigen Moment das Bild zu machen, das der inneren Wahrnehmung der Situation entspricht? Kommt es zu einer wirklichen Begegnung mit den abgebildeten oder porträtierten Menschen, so dass die Bilder sprechen und leben? Barbara Klemm hat ein ausgeprägtes Gespür für menschliche Not und für Geschichte. Sie ist oft den in Osten gereist und nach Lateinamerika. Der Osten hat sie deswegen besonders beschäftigt, weil sie in den erbärmlichen Lebensbedingungen ein Unrecht sah, das mit dem Zweiten Weltkrieg begann und mit der Nachkriegsordnung die Fortsetzung fand.
Begegnung heisst für Barbara Klemm nicht, möglichst „dicht dran“ zu sein. Ganz im Gegenteil drücken ihre Bilder oft auch eine Scheu aus, eine Scheu indiskret zu werden. Sie hätte nie Kriegsfotografin werden können, sagt sie. Menschen in menschengemachter Verzweiflung vorzuzeigen, wäre ihre Sache nicht.
Wenn man Barbara Klemm und ihren Bildern näher kommt, bemerkt man, wie diese beharrliche und leidenschaftliche Arbeiterin stets Grenzen zieht, an denen ihre Kunst Gestalt gewinnt. Da ist zum einen die Tatsache, dass sie sich auf die herkömmliche Schwarz-Weiss-Technik beschränkt. Zudem gibt sie nicht der Versuchung nach, mit modernster Technik wesentlich komfortabler und sicherer zu arbeiten. Die Härte der Unwiederbringlichkeit des entscheidenden Augenblicks wird nicht mit technischen Mitteln gemildert oder abgefedert. Sie ändert im Labor auch nicht mehr den einmal gewählten Bildausschnitt. Das Bild erscheint so, wie sie es in dem Moment gesehen und aufgenommen hat. Es lohnt, darüber nachzudenken, ob Kunst nicht gerade dann entsteht, wenn der Künstler sich auf sparsame Mittel beschränkt.
Allerdings verbringt sie im Labor wesentlich mehr Arbeitszeit als hinter der Kamera. Die Möglichkeiten der herkömmlichen Schwarz-Weiss-Technik bis an die Grenzen auszureizen, ist immer wieder ihr Ziel. Das ist nicht l´art pour l´art. Sondern das liegt an den komplexen Bedingungen der Fotografie selbst. So ist das berühmte Bild von Mutlangen mit Heinrich Böll 1983 dadurch zustande gekommen, dass auf die Versammlung in der ersten Morgendämmerung kurz der Scheinwerfer eines Kamerateams leuchtete. Das war der Moment für Barbara Klemm. Der Preis allerdings war hoch, denn die nicht beleuchteten Teile waren kaum noch zu sehen. Diese sichtbar zu machen und gleichzeitig die Helligkeits- und Tonwerte mit den herausgehobenen Partien abzustimmen, war anspruchsvoll und arbeitsintensiv zugleich. Auf diese Weise aber ist ein Bild von anderer Authentizität entstanden, als wenn man es relativ zügig mit den wunderbaren Möglichkeiten von Photoshop druckfertig gemacht hätte.
Im Archiv der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lagern Zig- wenn nicht Hunderttausende von ihren Negativen. Geordnet hat sie Barbara Klemm auf der Basis von Kontaktabzügen, die Monat für Monat zeitlich und thematisch bezeichnet sind. Da liegt ein Schatz, den zu heben sehr aufwendig sein dürfte.
Barbara Klemm hat zahlreiche Auszeichnungen entgegen nehmen können, unter anderem den Dr.-Erich-Salomon-Preis 1989, den Hessischen Kulturpreis 2000, den May-Beckmann-Preis 2010 und im selben Jahr auch den Orden Pour le Mérite. Sie ist Mitglied der Berliner Akademie der Künste und lehrt an der Fachhochschule Darmstadt. Dazu gibt es zahlreiche Ausstellungen, zuletzt 2009 eine internationale Tourneeausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen unter dem Titel: „Barbara Klemm. Helldunkel. Fotografien aus Deutschland“, und im Jahr 2010 in der Städtischen Galerie Karlsruhe eine „Retrospektive. Fotografien 1968 bis 2008“. Davon gibt es einen Katalog, ebenso gibt es vereinzelte Werke wie die „Strassen Bilder“ mit einer Einleitung von Barbara Catoir und Hans Magnus Enzensberger. Unübertroffen ist aber bis heute der Band „Bilder“ im S. Fischer Verlag von 1986.
Sehr zu wünschen ist eine neue repräsentative Buchausgabe der Bilder Barbara Klemms. Im März wird eine Ausstellung mit ihren Werken in Radolfzell am Bodensee eröffnet, in der auch Frank Röth, ein jüngerer Fotograf der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, vertreten sein wird.
Barbara Klemm, Strassen Bilder, Wädenwil, 2009