Was auf der Krim und rund um die Ukraine passiert, stürzt uns seit Wochen ins Zweifeln und Hirnen. Seit 1989, 1991 und 1993, als die Sowjetunion in drei Schritten auseinanderfiel, haben wir gedacht, jetzt ist der Ost-West-Konflikt zu Ende. Nach 25 Jahren Schläfrigkeit nicht nur beim grossen Publikum sondern auch bei der Führungselite von Brüssel bis Washington fûhlen wir uns erstaunt oder erschrocken in den Kalten Krieg zurückversetzt. Und besonnene Beobachter fragen sich, ob wir nicht mitverantwortlich sind. Ein gedankenloses Umwerben der Ukraine durch die EU hat Putin einen Steilpass geliefert hat, um die Krim zu besetzen.
Ob die Ängste berechtigt oder eine panische Überreaktion oder etwas dazwischen sind, werden wir erst nach Wochen oder Monaten wissen. Vielleicht nach Tagen, falls sich Russland und die USA über der Ostukraine in die Haare geraten. Seit Wochen bedroht Putin die ukrainische Ostgrenze mit fast 50000 russischen Truppen. Die Krim mit dem Heimathafen Sebastopol der russischen Schwarzmeerflotte ist jetzt russisch, aber von Russland aus erst auf dem Seeweg erreichbar. Putin muss in Versuchung sein, auch noch einen Streifen Ost-Unkraine zu annektieren, um eine Landverbindung zu gewinnen. Andererseits scheinen Putins letzte Züge, wie viele westliche Experten analysieren, anzuzeigen, dass er zur Zeit militärisch nicht weiter gehen will.
Hier der Versuch eines Amateurs, der nicht weniger überrascht worden ist als Sie, eine vorläufige Auslegeordnung zu machen. Ich stütze mich vor allem auf die Fakten und Kommentare der International New York Times, die fast jeden Tag zwei grosse Artikel der Krim und der Ukraine, den Aussprüchen Putins und Obamas, den Reaktionen in Nato und EU widmet. Ihre Reporter berichten direkt aus der Ukraine, der Krim und aus Sebastopol, dem Heimathafen der russischen Schwarzmeerflotte.
Im Trubel der Behauptungen
Aber jeden Tag kann eine neue Meldung die eben gewonnene Sicht über den Haufen werfen. Nachdem Kenner einige Zeit lang berichteten, Putin wolle die Ukraine wahrscheinlich nicht besetzen sondern nur destabilisieren und eine militärische Konfrontation sei unwahrscheinlich, hört man diesen Sonntag 13.April gegenseitige Drohungen der USA und Russlands über der Ost-Ukraine. Man darf hoffen und vielleicht vermuten, dass sie die Nerven nicht verlieren, aber 100prozentig sicher ist das nicht.
Es gibt Fragen, die seit Wochen ungeklärt sind, aber je nachdem jedes Urteil über den Haufen werfen können. Am letzten Tag vor dem Sturz des russlandfreundlichen Präsidenten Janukowitch schossen Scharfschützen auf die Menge der friedlichen Protestierer und töteten siebzig von ihnen. Die neue, pro-westliche Regierung der Ukraine behauptet, Janukowitsch habe ihnen den Befehl gegeben. Janukowitch hat das dementiert, Beweise hat die ukranische Regierung nicht gegeben.
Noch nicht zufriedene Rechtsextremisten
Ohne unparteiische Schlussfolgerungen können Putins Propagandisten weiterhin ihre Theorie verbreiten, ukrainische Rechtsextremisten hätten dieses grausame Gemetzel angestiftet, um Janukowitsch zu diskreditieren. Das ist weit hergeholt aber nicht unmöglich, weil es unter den prowestlichen Demonstranten auch rechtsextreme Gruppen gibt. Einer der Leader des „Rechten Sektors“, ein Oleksandr Muzichko, ist Ende März erschossen worden – von wem weiss man nicht, aber seinem Freund und Chef dieser gewaltbereit nationalistischen Gruppierung hat er zehn Tage vor seiner Ermordung anvertraut, die neue Kiewer Regierung habe ihm 20000 Dollar angeboten, wenn er das Land verlasse. Er sagte offen, er wolle auch sie stürzen, weil sie ihm noch nicht demokratisch genug sei. Wenn nötig mit Gewalt: „Ändern ohne Gewalt ist oft unmöglich“ ist das Credo der beiden. Auch seriöse westliche Russlandkenner schreiben, die neue Regierung sei nicht weniger korrupt als Janukowitch. Solange aber weder Russland noch die westfreundliche Regierung daran denken, unparteiische internationale Untersuchungen über diese Fragen zuzulassen, ist jedes klare Bild vom Aufstand unmöglich.
Die prowestliche Revolution in Kiew hat nun neuerdings im Osten der Ukraine in prorussisches Pendant gefunden. Seit zwei Wochen fordern Demonstranten den Anschluss an Russland und besetzen ukrainische Regierungsämter. Das erinnert an die Vorbereitung der Krim-Annexion. Russische Soldaten stehen aber nicht im Land selber, auch keine zivil verkleideten wie auf der Krim. Und selbst die ostukrainischen Oligarchen, die mit den Protesten sympathisieren, fordern die Protester auf, mit der Besetzung von Polizeiposten aufzuhören.
Wer soll sich in diesem Techtelmechtel sich widersprechender, von niemandem seriös zu kontrollierenden Behauptungen noch zurechtfinden?
Westlicher Steilpass für Putin
Aus der New York Times gewinnt man immerhin ein ausgewogeneres Bild als die Unisono-Kritik an Putin, die nach seinem Handstreich das Publikum des Westens überschwemmte. Auch in der NYT gibt es Putinkritik, aber mit Gegengewichten, welche auch seine Argumente zur Kenntnis nehmen. Und, viel wichtiger: Da lernt man die Fehler des Westens kennen, die ihm eine Steilvorlage zur ungestraften Annexion der Krim verschafften. Man kann geradezu den Eindruck gewinnen, der Westen sei mitverantwortlich.
Unsere Empörung verdrängt die Selbstkritik. Sie ist wichtiger als die Putin-Kritik! Sie muss uns lehren, Russland inskünftig richtig einzuschätzen: Nicht mehr als den Schwächling, der den Kalten Krieg verloren hat, sondern als Macht im Osten Europas mit eigenen, den unsrigen widersprechenden politischen Werten und Traditionen. Vielleicht sogar als Macht, welche in der Weltpolitik auf gleicher Höhe wie die USA und China mitspielen will, vom weltpolitisch kraftlosen Europa zu schweigen. Das bedeutet nicht, wie es der Eifer der ersten Tage übertrieb, die Wiedergeburt des Kalten Kriegs aber, wie es der Moskauer Ex-Botschafter und Spezialassistent Obamas für Sicherheitsfragen McFaul nennt, einen “intellektuellen Kampf mit unseren westlichen Normen gegen Putins autokratisches System. Mit derselben Kraft, mit der wir in Europa auch früher undemokratische Regimes bekämpft haben.“
Es begann 1989
Unsere Unaufmerksamkeit gegenüber Russland begann 1989, als das Sowetimperium unter drei schockierenden Stössen zusammenbrach. 1989 fiel nicht nur die Berliner Mauer, alle Satellitenstaaten Osteuropas wurden daraufhin von Gorbatschow kampflos in die Freiheit entlassen. 1991 zerbrach die Sowjetunion selber in ihre Bestandteile (unter anderem die Ukraine), und 1993 stürzte Jeltsin dann auch noch Gorbatschow und machte dem Kommunismus ein Ende. Wir dachten alle, von den Politikmachern in Europa und Amerika über die Medien (ich kann mich nicht ausnehmen) bis zur allgemeinen Stimmung: Die Ost-West-Spaltung Europas ist zu Ende, wir haben den Kalten Krieg gewonnen und Russland ist so geschwächt, dass es kein Gegner und keine Gefahr mehr Ist. Dieser wohligen Täuschung gaben wir uns zweieinhalb Jahrzehnte hin, bis uns Putins Blitzschlag auf der Krim herausgerissen hat.
In Russland staute sich von uns unbemerkt ein Gefühl des Widerstands auf. Der schläfrige Optimismus hat die EU am Schluss zu einem Schritt zuviel verleitet. Ohne dass sie es wusste oder wollte, sie machte einfach weiter wie seit 25 Jahren, wollte die Segnungen der friedlichen Integration Europas immer weiter nach Osten ausbreiten und merkte nicht, dass sie mit ihrem Angebot einer „Assoziation“ der Ukraine einen unsichtbaren Rubikon überschritt.
Was ist die Ukraine?
Die Ukraine ist nicht ein Land wie Polen, Rumänien oder Litauen, die sich, als sie der Sowjetherrschaft entronnen waren, so schnell wie möglich in den Schutz der EU und der Nato begaben, zu den Organisationen des Westens, dem sie sich kulturell und politisch seit altersher zugehörig fühlen. Die Ukraine ist anders. Seit dem Mittelalter ist sie ein labiles Zwischenreich, hin- und hergerissen zwischen Ost und West, immer wieder unterworfen, amputiert, umstritten,.geteilt zwischen Polen, Litauern und Russen. Nach dem ersten Weltkrieg erklärte sie sich für unabhängig, ihre West-Freunde verloren aber einen kurzen Bürgerkrieg gegen die Bolschewiken, und die Ukraine wurde sowjetrussisch, bis sie 1991 wieder unabhängig wurde. Sie trägt aber heute noch die Zeichen ihrer zerrissenen Vergangenheit. Zwei auseinanderstrebende Bevölkerungen: eine ukrainische im Westen rund um Kiew, eine mit der Muttersprache Russisch im Osten, beide etwa gleich stark aber politisch anders ausgerichtet, die einen blicken nach Westen, die anderen nach Russland. Ein uneinheitliches Land ohne nationales Identitätsgefühl, ohne Rücksicht auf regionale Unterschiede zentralistisch regiert, innen- und aussenpolitisch labil.
Die EU merkte nichts
Die EU bemerkte diesen Unterschied nicht. Ihr Anschmiegen an die Ukaine war, wie die russische Presseagentur Novosti freudianisch schreibt, eine “unterbewusste” Provokation Russlands. Putin redet jetzt von einer gezielten „Einkreisung“ durch Nato und EU seit Jahren, das ist aber Propaganda und Geschichtsverfälschung. Wenn die Nato ihre Militärmacht bis an Russlands Grenzen vortrieb, war das eine Folge von Russlands Unterdrückung der Polen während 40 und der Balten während 70 Jahren.
In der Ukraine ist das anders, da ist das Moskauer Gefühl einer „Einkreisung“ verständlich. Die EU glaubte naiv, die Staaten weit in den Osten bis in den Kaukasus und Asien liessen sich mittels wirtschaftlicher und politischer Abkommen problemlos ihrem westlichen Zusammenarbeits- und Wertemodell assoziieren. Aber schon das Wort „Assoziation“ war unvorsichtig und weckte russische Ängste. Putin und seine Landsleute sehen das als geopolitische Einkreisung und als deren letzten, nicht mehr erträglichen Schritt, und das ist aus ihrer Sicht verständlich. Sie sind nicht wie wir glaubten zu einem Staat geworden der unsere Werte teilt. Wir haben dieses Faktum nicht zur Kenntnis genommen, jetzt müssen wir es zur Kenntnis nehmen.
Russland sieht diese “Assoziationen” als Einmischungen in seinen Einflussbereich. Auch die EU hat bis vor wenigen Wochen so wenig wie die Nato und die USA bemerkt, dass der Einschnitt von 1989 Russland nicht zu einer Wertegemeinschaft mit dem Westen gemacht hat. Russland ist Russland geblieben, ein 150Millionenvolk mit eigenen Werten und einer unserem Westen nicht feindlichen, aber anderen Mentalität. Ein starker Herrscher wird nicht nur akzeptiert sondern gewünscht..Ich bin aber nicht einmal sicher, ob der Machtpokerspieler Putin selber an die Einkreisung glaubt oder sie kühl als anti-westliches und innenpolitisch populäres Argument propagiert.
Sind wir bedroht?
Bedroht uns Putins Russland? Militärisch wohl nicht, der ebenso weitblickende wie kühl rechnende Machtpolitiker wird sich hüten, einen heissen Krieg mit dem Westen auszulösen. Die Annexion der Krim lehrt uns aber viel sowohl über seine langfristige Strategie wie über seine politische Raffiniertheit: Politisch und geopolitisch ist Putins Russland wieder ein ebenbürtiger Gegenspieler geworden, der seinen Einflussbereich eifersüchtig verteidigt. Putin wartete geduldig einen Moment grosser Schwäche des Westens ab. Er liess unsere Schläfrigkeit jahrelang wachsen, bis sie ihm innert einer Woche die Gelegenheit bot, diese Annexion ungestraft durchzuführen. Auch die Massierung von 50000 Truppen an der Ostgrenze der Ukraine soll uns zeigen, dass wir es von jetzt an nicht mehr mit dem Schwächling von 1989 zu tun haben, sondern mit einer Macht, die im Osten Europas ihr Wort mitredet.
Aufrüstung!
Zu diesem Ziel hat Putin in allen dafür nötigen Bereichen aufgerüstet. Auch, von uns unbemerkt, militärisch! Die Militärattachés haben das unseren Regierungen zweifellos gemeldet, aber davon war weder in ihrer Politik noch in unseren Medien etwas zu merken. Ein NYT-Korrespondent hat auf der Krim erstaunt die russischen Truppen beobachtet: Sie hätten nichts mehr zu tun mit den halbtrunkenen Soldaten in schludrigen Uniformen, die 2008 in Georgien intervenierten. Die Rote Armee sei komplett modernisiert worden. Eingeschlossen die beherrschte Gewaltlosigkeit, mit der sie die ukrainischen Soldaten entwaffneten und abziehen liessen. Die Details dieser von Putin geleiteten Modernisieung würden einen eigenen Artikel füllen.
Viele westliche Experten glauben, dass Putin im Moment militärisch nicht weiter gehen will als in der Krim. Aber er setzt die Ukraine unter stärksten Druck, um sie vom Kiewer West-Kurs abzuhalten. Er fordert eine Föderalisierung, welche den Russofreundlichen im Osten viel Autonomie einräumen würde. Sie seien zwar russophil, berichtet die NYT, aber gegen einen Anschluss an Russland, weil sie wissen, dass sie dort viel weniger Freiheit hätten.
Die Fakten und das Völkerrecht
Die Vorwürfe schwirren hin und her, aber nicht alles ist so eindeutig, wie es uns unsere Propaganda vormacht. Putins Vergleich der Krim mit Kosovo ist unhaltbar, die Unterschiede in den Fakten sind krass: Der serbische Autokrat Milosevic überfiel 1999 die muslimisch-albanophonen Kosovaren militärisch und trieb 100000 von ihnen zur Flucht nach Albanien, die Nato bombardierte Belgrad und verhalf den Kosovaren zur Unabhängigkeit. Die Russen der Krim wurden weder verfolgt noch ausgetrieben. Rein völkerrechtlich gesehen ist aber auch Kosovos Unabhängigkeit von Serbien eine einseitige Verschiebung von Grenzen. Nur etwa 50 Staaten haben sie anerkannt, selbst einige EU-Staaten nicht, die einen Präzedenzfall für die Unabhängigkeitserklärung eigener Regionen fürchten wie die Spanier in Katalonien.
Und die USA sind die letzten, die die Annexion der Krim verurteilen dürfen. Sie haben kurz nach 1900 dem Staat Kolumbien ein Terrirorium von einigen hundert Quadratkilometern entrissen und den Satellitenstaat Panama geschaffen, der ihnen dann den Streifen Land verkaufte, wo sie den Panakanal bauten. Es wohnten dort keine Amerikaner. Nicht zu vergessen auch, dass die noch von den westlichen Staaten beherrschte Uno 1948 einen völlig neuen Staat in fremdem Territorium schuf: Israel. Dafür gab und gibt es respektable Gründe. Das alles entschuldigt Putin nicht, aber es relativiert die westliche Empörung. Die Annexion der Krim ist nicht ein einzigartiger Verstoss gegen das Völkerrecht. Solche Akte haben auch im Westen immer wieder stattgefunden, von den USA und, als sie im Zeitalter des Kolonialismus noch Weltmächte waren, von den Europäern.
Hochgefährlich ist der Präzedenzfall
Am gefährlichsten ist aber nicht die Annexion der Krim an sich. Hochgefährlich ist, was sie weltweit auslösen kann! Sie kann zum Fanal für viele Länder werden, ein Territorium zu annektieren, wo einige ihrer Landsgenossen wohnen. Solche Länder und Territorien und Minderheiten gibt es in der Welt unzählige, und keine Staatenordnung wird sie je eliminieren. Überall imitiert hätte die Annexion der Krim weitere Annexionen, eine Verschiebung der Grenzen, Kriege und weltweite Anarchie zurr Folge.
Das zu verhindern würde ein globales Einverständnis erfordern, von welchem zur Zeit nichts zu sehen ist. Eine erste Massnahme wäre der Versuch von Europäern und Amerikanern, die Krim-Frustration zu überwinden und mit Russland für eine Koalition gegen diese gefährlichen Schlussfolgerungen zu schmieden. Putin würde mitmachen. Er hat keinerlei Interesse daran, dass die Annexion der Krim zum Präzedenzfall der ganzen Welt mutiert.