Mitnichten. Wir bekommen es hier mit den Tücken der Statistik, genauer: der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu tun. Die Statistik sagt uns, dass es pro 100’000 Schweizer 80 Infizierte gebe. Ein Testverfahren verspricht, mit 95-prozentiger Genauigkeit eine Infektion zu entdecken: Wenn man infiziert ist, liefert der Test mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein positives Resultat. Leicht interpretiert man das so: Wenn man positiv getestet wird, ist man mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit infiziert. Falsch.
Sensitivität und Spezifität
Es besteht ein grosser Unterschied zwischen der Wahrscheinlichkeit, dass eine infizierte Person ein positives Testresultat hat, und der Wahrscheinlichkeit, dass eine positiv getestete Person infiziert ist. 80 Menschen von 100’000 sind infiziert. Der Test liefert unter diesen 80 Infizierten 76 positive Resultate (95%). Man nennt dies die Sensitivität. Nun ist aber kein Verfahren vollkommen. Das heisst, kein Test garantiert, dass 100 Prozent aller nicht infizierten Gestesteten ein negatives Resulat zeigen. Man nennt dies die Spezifität. Spezifität von 95% bedeutet, dass von 100 Nicht-Infizierten 95 ein negatives Resultat aufweisen, 5 dagegen ein positives, aus welchen Gründen auch immer. 99’920 Menschen sind nicht infiziert, 5 Prozent davon positiv, also 4996.
Will man nun berechnen, wieviele positiv Getestete infiziert sind, muss man die 80 wirklich infizierten Personen ins Verhältnis zu allen 5’072 (4’996 + 76) positiv Getesteten setzen, also: 80 / 5072 ≈ 0.016 (1.6%). Wenn man einen zufällig herausgegriffenen Menschen ohne Symptome positiv testet, dann ist die Wahrscheinlichkeit einer Infektion sehr gering.
Wozu Tests?
Nun meldet sich beim Skeptiker unweigerlich die Frage: Wozu dann überhaupt Tests? Zuerst einmal handelt es sich hier um unsichere Zahlen. Die Dunkelziffer der Infizierten ist wahrscheinlich viel höher. Immerhin ist die Wahrscheinlichkeit nach dem Test (0.016) 20 mal grösser als vor dem Test (80/100000 = 0.0008). Nehmen Sie an, Sie seien positiv. Was tun? Sie können sich sagen, die Wahrscheinlichkeit, infiziert zu sein, sei immer noch relativ niedrig, und Sie gehen nach wie vor unter die Leute. Das sorgt für Ungewissheit, denn Sie wissen ja nicht hundertprozentig, dass Sie nicht infiziert sind, und gefährden so das öffentliche Wohl. Oder Sie sind vorsichtig und setzen sich unter Quarantäne, was zwar das öffentliche Wohl nicht gefährdet aber möglicherweise unnötige Dienstleistungen in Anspruch nimmt.
Aus gesundheitspolitischer Perspektive ist es deshalb wichtig, über Tests mit hoher Sensitivität und Spezifität zu verfügen. Das heisst, ein positives Testresultat sollte zuverlässig die Infektion garantieren, ein negatives Resultat die Nicht-Infektion. Das ist die Entscheidungsbasis für den Arzt. Er befindet sich in einer anderen Situation als in jener der oben beschriebenen statistischen: Er greift nicht zufällig einen Patienten aus einem Sample. Der Patient kommt zu ihm mit einem bestimmten Verdacht. Und der Arzt stellt eine Hypothese auf, die Null- oder Apriori-Hypothese: Mit welcher Wahrscheinlichkeit ist der Patient infiziert? Wenn der Arzt den Patienten nicht kennt, keine verräterischen Symptome feststellt, schätzt er die Wahrscheinlichkeit einer Infektion erst einmal auf 50% (Apriori-Wahrscheinlichkeit). Das heisst, er könnte auch würfeln. Hier hilft ihm nun der Test. Ein guter Test ist trennscharf wie ein Messer: Ein positives Resultat lässt die 50% auf über 90% steigen, und ein negatives Resultat lässt sie unter 10% sinken (man spricht hier von Aposteriori-Wahrscheinlichkeit). Das verhilft, generell gesehen, zu einem weniger ungewissen Überblick.
Eine Epidemie ins Rollen bringen
Wenn man infiziert ist, kann man andere anstecken. Die Epidemiologie kennt einen Parameter, den R0-Wert (R-Null-Wert). Er gibt an, wieviele Menschen ein Infizierter durchschnittlich ansteckt. Der R0-Wert des Coronavirus wird auf 2.5 geschätzt. Ein Infizierter steckt im Schnitt 2.5 Menschen an. Was heisst das?
Betrachten wir vier Personen. Die erste steckt zwei weitere, die zweite nur einen, die dritte vier und die vierte drei weitere an. Insgesamt stecken also 4 Personen 10 weitere an. Das ergibt im Schnitt 2.5 Personen. Nun spielt natürlich die Zeit eine entscheidende Rolle. Die Ansteckung ist in der Regel nach 5 Tagen beobachtbar. Nach 5 Tagen sind also 10 weitere Personen angesteckt. Jetzt kommt die Epidemie ins Rollen. Diese 10 Personen stecken nach weiteren 5 Tagen im Schnitt weitere 25 an, diese 25 nach weiteren 5 Tagen 63 (62.5), diese 63 nach weiteren 5 Tagen 156 (165,25) und so weiter. [1] Bildet man die Summe aller Infizierten, ergibt dies folgendes Bild: [2] Nach 5 Tagen: 14, nach 10 Tagen: 39, nach 15 Tagen: ~102, nach 20 Tagen: ~258, nach 30 Tagen: ~648. Nach einem Monat (30 Tage) sind aus 4 Infizierten über 600 geworden. Nach 2 Monaten wären es bereits über 1.5 Millionen. Man sieht: Die Zahlen 14, 39, 102, 258, 648 bilden eine Folge, deren Wachstum man am Anfang leicht unterschätzt.
Eine Epidemie bremsen
Nun sind das abstrakte Modellbetrachtungen. Zahlenwerte sagen hier nicht viel aus. Wohl aber zeigen sie das wesentliche Merkmal solchen Wachstums: die Rasanz. Das Problem ist also, diese Rasanz zu bremsen.
Breitet sich eine Epidemie in weniger als 5 Tagen mit dem R-Null-Faktor – in unserem Fall also 2.5 – aus, spricht man von ungebremstem Wachstum, bei 5–15 Tagen von moderat ungebremstem Wachstum, bei über 15 Tagen von gebremstem Wachstum. Die Kategorisierung ist grob. Die Schweiz weist ein moderat ungebremstes Wachstum auf.
Wie bremst man? Gegenwärtig durch soziale Massnahmen wie Distanzhalten. Gehen wir noch einmal unser Beispiel mit den vier Personen durch. Es gelingt uns durch Distanzhalten die Infektionsrate zu vermindern. Die erste Person steckt zwei weitere, die andern stecken je eine weitere Person an. Nach 5 Tagen haben 4 Personen 5 weitere Personen angesteckt, im Schnitt 1.25. Rechnen wir mit diesem Faktor nun noch einmal alles durch, so ergibt sich: Nach 5 Tagen 5 weitere Ansteckungen; nach 10 Tagen ~ 6 weitere (6.25), nach 15 Tagen ~ 8 (7.8), nach 20 Tagen ~ 10 (9.76), nach 30 Tagen ~ 15. Nach einem Monat (30 Tagen) haben wir noch die Gesamtzahl von 46 Infizierten, im Gegensatz zu 600.
Statt mühsam von Hand Berechnungen durchzuführen, stehen uns zahlreiche Simulationswerkzeuge zur Verfügung. Eine Forschergruppe um Neil Ferguson vom Imperial College in London hat Modell-Szenarien in zahlreichen Variationen durchgespielt. Zum Beispiel machte man Annahmen über Bevölkerungsdichte, Ausstattung der Gesundheitssysteme, Arbeitswege, das „Mitspielen“ der Bevölkerung bei verordneten Massnahmen – die Compliance – und anderes. Ein Hauptresultat zeigt, dass die Eindämmung nur mithilfe eines Bündels starker kollektiver Massnahmen gelingt.
Also: Rückt einander nicht auf die Pelle, Leute!
[1] Für Versiertere: die exponentielle Wachstumsformel lautet für moderat ungebremstes Wachstum
x = x0 2.5 ^t/5 (also hoch t/5)
[2] Für Versiertere: Summenformel für geometrische Folgen:
x0 (2.5^n -1) / (2.5-1).