Im November wählen die USA den nächsten Präsidenten ins Weisse Haus. Zur Wahl stehen höchstwahrscheinlich zwei alte weisse Männer: Der 81-jährige Joe Biden und der 78-jährige Donald Trump. Peter Winkler, langjähriger Amerika-Korrespondent der NZZ, erklärt in einem faktenreichen Buch wesentliche Aspekte, die diese irritierende Auswahl beeinflussten. Und was dabei für Europa auf dem Spiel steht.
Peter Winkler ist ein erfahrener Kenner der politischen Szenerie in Amerika. Zehn Jahre seines Korrespondentenlebens hat er für die NZZ über die bewegten Kontroversen und Veränderungen während der Amtsjahre der Präsidenten Obama und Trump und den Einzug von Joe Biden ins Weisse Haus berichtet. Mit seinem breiten Wissen um die aktuellen Trends und Hintergründe im amerikanischen Politbetrieb hat er nun ein ganzes Buch über die im kommenden November bevorstehende Wahl des nächsten Präsidenten im Weissen Haus verfasst.
Der Sturm aufs Kapitol als Menetekel
Winkler beginnt seine Überlegungen mit einem beunruhigenden Gedankenspiel. Er schildert, wie die dramatischen Ereignisse vom 6. Januar 2021 auch hätten ausgehen können. Es ist der Tag, an dem fanatisierte Trump-Anhänger das Kapitol in Washington stürmen, um die formelle Bestätigung des neu gewählten Präsidenten Biden zu verhindern und stattdessen die angeblich «gestohlene» Wiederwahl des bisherigen Amtsinhabers Trump zu erzwingen.
Weil die Sicherheitskräfte in Washington wie gelähmt auf diesen Angriff des Mobs auf die versammelten Volksvertreter im Kapitol reagieren, aktivieren die benachbarten Bundesstaaten Maryland und Washington ihre Nationalgarden, die die Zufahrtsstrassen zur Hauptstadt abriegeln. Damit soll der drohende Ausbruch eines Bürgerkrieges verhindert werden, denn im ganzen Land haben sich bereits Fahrzeugkolonnen mit Zehntausenden von meist bewaffneten Menschen auf den Weg gemacht, um die «Patrioten im Kapitol» zu unterstützen oder um die «Demokratie gegen einen Putsch zu verteidigen».
Dieses Szenario klinge, schreibt Winkler, glücklicherweise nur nach einem Albtraum, denn wir wissen, dass es an jenem Tag nicht zu weit gekommen ist – nicht zuletzt deshalb, weil eine Reihe von Amtsträgern im Regierungsapparat nicht bereit war, Trumps Aufforderungen zur «Korrektur» der Präsidentenwahl Folge zu leisten. Zu diesen Personen gehörten der bisher stets Trump-loyale Vizepräsidenten Mike Pence und Justizminister William Barr. Doch Winkler wirft in seinen Überlegungen doch einen genaueren Blick auf das mögliche Szenario eines Bürgerkrieges, weil er dessen Verhinderung im Jahre 2021 nicht für absolut selbstverständlich hält – und offenbar auch nicht für den nächsten Wahlausgang 2024.
Immun gegen Skandale und ständige Lügen?
Wie aber kommt es, dass in den sonst so vital anmutenden Vereinigten Staaten von Amerika, eine der ältesten Demokratien der Welt mit über 330 Millionen Einwohnern, heute die beiden gleichen alten weissen Männer zur Präsidentenwahl in der Arena stehen, die schon vor vier Jahren als Hauptkandidaten um dieses Amt gefochten hatten? Winkler kann darauf, wie immer wenn es um Wahlentscheidungen in demokratisch organisierten Gesellschaften geht, auch keine völlig schlüssigen Antworten geben. Zum Fall Trump hält er fest, dieser sei als Präsident nicht nur «gegen alle möglichen Skandale und gegen den Nachweis fast ununterbrochenen Lügens immun» gewesen. Er habe seine «Launenhaftigkeit und den instinktsicheren Umgang mit Reizthemen zu wesentlichen Elementen seiner Machtausübung» gemacht. Weil er mit diesem Stil weiterhin in verblüffend weiten Teilen der Bevölkerung Zustimmung und Begeisterung wecken kann, hat sich ihm auch die republikanische Partei ohne nennenswerte Widerstände opportunistisch unterworfen.
Nicht ganz so rätselhaft wie die nach dem Sturm aufs Kapitol vor vier Jahren fortbestehende Anziehungskraft Trumps auf bestimmte Wählerschichten, aber doch verwunderlich, bleibt die Frage, weshalb neben dem hochbetagten Amtsinhaber Biden in der demokratischen Partei nicht andere ernsthafte Präsidentschaftsbewerber in die Arena gestiegen sind. Winkler erinnert an das Jahr 1968, als der demokratische Linke Gene McCarthy und Robert Kennedy, der Bruder des ermordeten John F. Kennedy, gegen den amtierenden demokratischen Präsidenten Johnson als Herausforderer antraten, was diesen zum Verzicht auf eine neue Kandidatur bewegte.
Weshalb keine parteiinterne Konkurrenz für Biden?
Die Folge war, dass die Demokraten völlig gespalten waren und schliesslich Johnsons Vizepräsident Humphrey zum offiziellen Kandidaten nominiert wurde. Doch angesichts der inneren Zerrissenheit der Partei wurde schliesslich der Republikaner Nixon zum Präsidenten gewählt. Ähnlich negative Erfahrungen machten die Demokraten 1980 bei der angestrebten Wiederwahl von Jimmy Carter. Dieser war nicht zuletzt dank parteiinterner Herausforderungen geschwächt und es war der Republikaner Reagan, der das Rennen machte. Es mag sein, dass diese negativen Erfahrungen dazu beigetragen haben, dass 2024 kein parteiinterner Herausforderer gegen Joe Biden angetreten ist.
Ein ebenso bedeutender Faktor dürfte aber auch der Umstand sein, dass unter den Demokraten neben Biden kein Politiker zu erkennen ist, dem man spontan zutrauen würde, dass er sich parteiintern gegen den amtierenden Präsidenten und anschliessend gegen den wahrscheinlichen republikanischen Konkurrenten Trump durchsetzen könnte. Dem Aussenseiter Robert F. Kennedy, dem Sohn des 1968 ermordeten Senators, der als Parteiloser kandidiert, scheint der Autor keinen wesentlichen Einfluss auf das Wahlergebnis einzuräumen.
Antiquiertes Electoral College
Winkler analysiert in seinem Buch neben der ziemlich kursorischen Beschreibung der beiden Präsidentschaftskandidaten Biden und Trump eine längere Reihe von institutionellen und sozialen Faktoren, die für die Entscheidung im November eine bedeutende oder gar zentrale Rolle spielen könnten. An erster Stelle ist hier die Einrichtung des Electoral College oder Wahlmännergremiums zu nennen. Amerikas Stimmbürger wählen seltsamerweise nicht direkt einen Präsidentschaftskandidaten, sondern sie wählen in den einzelnen Gliedstaaten die dem offiziellen Kandidaten verpflichteten Wahlmänner oder -Frauen. Jeder Einzelstaat schickt so viele Wahlmänner in das Electoral College, wie er Vertreter im Kongress hat. In den meisten Einzelstaaten gilt der berühmte Grundsatz «Winner takes it all», das heisst, derjenige Präsidentschaftskandidat, der am meisten Stimmen in einem Bundesstaat gewinnt, darf alle Wahlmänner des betreffenden Staates auf sein Konto verbuchen.
Dieses System kann zur Folge haben, dass nicht unbedingt derjenige Präsidentschaftskandidat, der die meisten Volkstimmen gewinnt, auch zum Präsidenten gewählt wird. Das Rennen ins Weisse Haus gewinnt vielmehr derjenige, der am meisten Wahlmänner ins Electoral College entsenden kann. In den letzten Jahrzehnten ist diese Anomalie gleich zwei Mal Tatsache geworden: Im Jahr 200O gewann der Demokrat Al Gore zwar die meisten Wählerstimmen, aber Präsident wurde George W. Bush, weil er mehr Wahlmänner auf sich vereinigte. 2016 wiederholte sich diese Konstellation: Für Hillary Clinton stimmten drei Millionen mehr Bürger als für Trump, doch dieser hatte mehr Stimmen im Elektorengremium auf seiner Seite und konnte so ins Weisse Haus einziehen.
Dieses komplizierte Prozedere ist in der 250 Jahre alten amerikanischen Verfassung festgeschrieben. Es mag in der Gründerzeit, als ganz andere Fortbewegungs- und Kommunikationsverhältnisse herrschten, berechtigt und sinnvoll gewesen sein. Heute ist es eindeutig überholt und mutet umso abwegiger an, weil es, wie erwähnt, dazu führen kann, dass nicht der Mehrheitswille der Wähler entscheidet, wer das Rennen um die Präsidentschaft gewinnt. Winkler erwähnt, dass 1969 das Repräsentantenhaus für einen Verfassungszusatz stimmte, der das Electoral College abschaffen und durch die direkte Volkswahl des Präsidenten ersetzen sollte. Der Vorstoss scheiterte knapp im Senat.
Und falls Trump doch noch verurteilt wird?
Interessant ist die Überlegung, welchen Einfluss eine eventuelle Verurteilung Trumps in einem der gegenwärtig gegen ihn laufenden Prozesse auf die Präsidentschaftswahl im November haben könnte. Winkler zitiert dazu eine schon länger zurückliegende Umfrage, nach der in diesem Fall rund sechs Prozent der potentiellen Trump-Wähler in sechs entscheidenden «Swing»-States zu Biden überlaufen würden, was wiederum dem Konkurrenten Trump den Sieg kosten könnte. In Stein gemeisselt sind solche Erwartungen keineswegs. Aber das Beispiel ist geeignet, das Bewusstsein dafür zu schärfen, welche Unwägbarkeiten bei der bevorstehenden Wahlentscheidung noch ins Spiel kommen könnten.
Für Europa und seine Sicherheit würde ein neuer Wahlsieg Trumps auch in Winklers Sicht nichts Beruhigendes bedeuten. Schon in seiner ersten Amtszeit hatte er das Nato-Verteidigungsbündnis verächtlich als «veraltet» und als «obsolet» abgetan. Russlands Machthaber Putin scheint ihm mit seinem autoritär-aggressiven Stil eher Sympathie als Misstrauen einzuflössen. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hatte er damit geprahlt, dass er den Krieg in 24 Stunden beenden würde. Im Grunde aber sei ihm das Schicksal der Ukraine egal, meint Winkler.
Als erfahrener Beobachter hütet sich der Autor, sich auf eine Prognose einzulassen, wer im November zum US-Präsidenten gewählt wird. Wer sich aber in seine Analysen und Überlegungen vertieft, kann zumindest nach Ansicht dieses Rezensenten bei nüchternem Sinn kaum um ein eindeutiges Urteil herumkommen, welche Entscheidung der amerikanischen Wähler – falls es tatsächlich bei den Kandidaten Biden und Trump bleibt – das kleinere Übel und Risiko für Amerika und die demokratische Welt bedeuten würde.
Peter Winkler: Amerika hat die Wahl. Wie der Kampf ums Weisse Haus unsere Zukunft bestimmt. Quadriga, Köln 2024.