Kunst sei für ihn bloss ein Spiel, sagt Ai Weiwei gerne. Überhaupt scheint er darauf Wert zu legen, durch die schiere Fülle seiner Fotos, Blogs und Konzepte den Eindruck zu erwecken, dass nichts, was er fotografiert oder gestaltet, in künstlerischr Hinsicht wirklich von Bedeutung sei. Deswegen durfte man gespannt sein, ob die Ausstellung im Fotomuseum Winterthur, die ab dem Herbst im Pariser Museum Jeu de Paume gezeigt wird, mehr ist als eine Ansammlung von Beliebigkeiten.
Der Eindruck ist überwältigend. Die Ausstellungsmacher, die vor seiner Verhaftung noch eng mit Ai Weiwei zusammengearbeitet haben – der Künstler sollte bei der Eröffnung der Ausstellung am 28. Mai 2011 anwesend sein – haben die zahllosen Bildern in eine Form gebracht, in der jedes einzelne Element mit allen anderen zusammen wirkt. Die Fülle der Bilder übermittelt auf diese Weise stringente Aussagen über Ai Weiweis China, das sich wandelt, sich im Wandel geradezu windet und dessen Menschen uns bei aller Fremdheit erstaunlich nahe kommen. Diese überraschende Nähe ist ein Effekt der unprätentiösen Art, mit der Ai Weiwei fotografiert: Viele Bilder, sie sind zum Teil seriell wie Filmsequenzen angelegt, halten fest, was er gerade sieht und erlebt. Man schaut ihm über die Schulter und teilt den Blick eines Insiders, der doch auch immer ein bisschen fremd ist in seinem Land.
In einem Raum sind zwölf grossformatige Flachbildschirme in zwei Reihen angeordnet, auf denen in schneller Folge Bilder in Farbe und Schwarzweiss erscheinen. Dazu werden Themen angegeben wie: Essen, Journalisten, Designelemente, Feste und Veranstaltungen. Es ist schwer, sich von diesen Sequenzen loszureissen. Denn hier zeigt sich ebenso wie in der grossen Halle mit den über die ganzen Wände dicht an dicht verteilten grossformatigen Bildern eine ästhetische Qualität, die die Versicherungen Ai Weiweis, es handele sich lediglich um beliebig fotografierte Banalitäten, widerlegt. Selbst wenn Ai bloss ein Handy zum Fotografieren nutzt, erkennt man am Ergebnis die gestaltende Kraft seines künstlerischen Blicks.
Woher der Nachdruck auf das Beliebige? Der Vater Ai Weiweis war ein bedeutender Poet, der allerdings zu Zeiten der Kulturrevolution Maos in Ungnade fiel und und in der 20-jährigen Verbannung dreizehn Jahre lang Toiletten putzen durfte. Ai, 1957 geboren, studierte zunächst in Peking Filmwissenschaft und gründete 1978 ein Künstlerkollektiv, das gegen den „sozialistischen Realismus“ opponierte. 1981 ging Ai in die USA, zuerst nach Philadelphia und Berkeley und 1983 nach New York.
Teils lebte er im Kreise von Chinesen, teils mit neuen Freunden im East Village. Zunächst führte er, wie er selbst sagt, ein ziel- und planloses Leben. Unter dem Einfluss von Marcel Duchamp und Allen Ginsberg, der ihn öfter in seiner Bude in der East 3rd Street besuchte, sollte sich das ändern. Das Konzept des „Ready-made“, des „object trouvé“ animimierte Ai dazu, in tausenden von Fotografien auf dem Kodak TX 5063 Kleinbildfilm das alltägliche Leben in seinem unmittelbaren Umfeld zu dokumentieren.
Daneben aber studierte er auch Architektur, beschäftigte sich mit Design. Als er 1993 aufgrund einer schweren Erkrankung seines Vaters nach China zurück kehrte, baute er sein eigenes Studio, kuratierte im Jahr 2000 die Ausstellung „Fuck off“, in der die zeitgenössische chinesische Kunst zur Geltung kam. 2003 gründete er das Architekturstudio FAKE Design, und 2007 gelang es ihm, mit 1001 Landsleuten zur Documenta 12 nach Kassel zu reisen.
Im Jahr 2003 arbeitete er mit den Schweizer Architekten Herzog & Meuron am Bau des Pekinger Olympiastadions mit. Aber er sieht und dokumentiert immer wieder dir Schattenseiten der neuen Architektur. Er fotografiert die Entstehung des Terminals 3 vom Pekinger Flughafen und dokumentiert hier und an anderen Orten die Allmacht der chinesischen Administration, die nach Gutdünken über allen Grund und Boden verfügen kann. In eine grosse Bilderwand haben die Aussteller in Winterthur zwei Flachbildschirme eingefügt, auf denen der Verkehr auf städtischen Schnellstrassen rollt – und man hört das monotone Summen.
In einem Gespräch mit dem Schweizer Kurator Hans Ulrich Obrist sagte Ai Weiwei: „Nach meiner Begegnung mit dem Werk Duchamps realisierte ich, dass Künstler zu sein eher mit einer Haltung und einer Lebensführung zu tun hat, als mit der Produktion von Objekten. Es geht um eine bestimmte Art und Weise, die Dinge zu sehen.“ Man darf das aber nicht mit Kontemplation verwechseln. Ai Weiwei hat Biss: Er ist aggressiv und vor allem ist er ein Kommunikator mit einem unvorstellbaren Output. Seine Blogs gingen tagtäglich mehrfach online und erreichten bis zu 17 Millionen Leser. Dazu veröffentlichte er Bilder ohne Zahl. In New York hatte er noch analog fotografiert, und die vielen Tausend Bilder in Schwarzweiss wurden erst Jahre später nach seiner Rückkehr in Peking entwickelt.
Mit der Digitalfotografie gab es keine Verzögerung mehr und die Kamera wurde zum Lieferanten von Material, mit dem die Blogs gefüttert werden. Es ist nur konsequent, dass Ai schliesslich beim Fotografieren mit dem Handy landete. Aber so wenig die „bestimmte Art und Weise, Dinge zu sehen“ mit Kontemplation verwechselt werden darf, so wenig sollte die schnodderige Art, mit der Ai Weiwei die Fotografie für sich in Anspruch nimmt, mit Beliebigkeit verwechselt werden. Die Ausstellung im Fotomuseum dokumentiert Momente im Blick eines begnadeten Künstlers. Ai beherrscht die Kunst, den banalen Alltag zu dokumentieren, ohne dass seine Bilder trivial wirken.
Und immer wieder bricht die Lust an der Provokation durch. Ein Dokument davon ist inzwischen zu einer Ikone der modernen Fotografie geworden: "Dropping a Han Dynasty Urn" von 1994. Aus demselben Jahr stammt eine andere Fotografie, die brisanter ist. Zum 5. Jahrestag des Massakers auf dem Tian´anmen Platz lässt er seine damalige Assistentin und jetzige Frau vor dem Platz – im Hintergrund blickt Mao von einem Bild – posieren und für den kurzen Augenblick des Auslösens den Rock heben, so dass man ihren Slip sieht. Wie eine Bildunterschrift im Playboy trägt das Bild den Titel "June 1994".
Eine Serie von Bildern zeigt den „Stinkefinger“ Ais vor Monumenten, die man in anderem Zusammenhängen dem „Weltkulturerbe“ zurechnen würde, zum Beispiel dem Eifelturm, dem Markusplatz in Venedig oder dem Parlamentsgebäude in London. Seine Respektlosigkeit kann manchmal bis zur Schmerzgrenze gehen, und nicht immer findet er dafür den Beifall aller seiner Freunde und Bewunderer.
Zu der Ausstellung ist bei Steidl, Göttingen, ein englisch-deutscher Katalog erschienen: Ai Weiwei – Interlacing, Hg. Urs Stahel / Daniela Janser, 496 Seiten, mit etwa 600 Abbildungen und fundierten Textbeiträgen. Dieser Katalog, der auch Blogs von Ai Weiwei enthält, dürfte schnell zum Standardwerk über diesen Künstler werden. Er bietet einen umfassenden und gut dokumentierten Einblick, aber ersetzt nicht den Besuch der Ausstellung, die bis zum 21. August in Winterthur zu sehen ist.
Parallel dazu bietet das Fotomuseum eine zweite Ausstellung : Alexander Rodtschenko – Revolution der Fotografie. Hier geht es um einen der bedeutendsten Fotografen der frühen Sowjetunion. Gleichzeitig setzt die Fotostiftung mit der Ausstellung eines nahezu vergessenen Schweizer Fotografen einen bemerkenswerten eigenen Akzent: „Alles wird besser – Fotografien von Hans Steiner“. Es ist das Verdienst des Musée de l´Elysee, Lausanne, das Werk Steiners gesichtet und aufbereitet zu haben. - Beide Ausstellungen werden im Journal21 noch ausführlich besprochen.