An das Jahr 1914 zu denken, bedeutet, sich immer wieder neu dem Unfassbaren zu nähern. Wie konnte die europäische Kultur im Zeichen ihrer Blüte in so kurzer Zeit so tief sinken, dass sie sich auch in Jahrzehnten davon nicht mehr erholt hat? Was ist der Mensch, der solches tut?
Wie klug sind Philosophen?
Das ist keine exklusiv philosophische Frage. Psychologen, Theologen oder Soziologen melden sich diesbezüglich auch lebhaft zu Wort, aber von der Philosophie erwartet man Antworten, die Fachgrenzen überschreiten. Deswegen ist die Sonderausgabe des Philosophie Magazins von besonderem Interesse. Sind die Einsichten der Philosophen tiefgehender, sind Philosophen gar klüger als die anderen Zeitgenossen?
Die Auswahl der Stimmen, die die Redaktion des Magazins getroffen hat, belegt erneut, wie zeitgebunden selbst die prominentesten Vertreter ihres Faches sind. So erweisen zwei kurze Texte des österreichischen Philosophen Fritz Mauthner und des französischen Denkers des élan vital, Henri Bergson, wie diese im Krieg eine Kraft sehen, die die Menschen aus den Niederungen des Alltags herausreisst und zu höherer Bestimmung treibt. Der tiefe Fall geistiger Höhenflüge.
Der Segen des Krieges
Das alles ist nur zu bekannt, aber man ist doch immer wieder erschüttert, wenn man von einem scharfen Analytiker der modernen Zeit wie Georg Simmel lesen muss, dass der Krieg ein Segen sei, weil er den Menschen endlich daran erinnere, dass das Streben nach Geld, Besitz oder materieller Sicherheit von den eigentlichen Zwecken des Daseins ablenke. „Es scheint sicher, dass der Soldat, mindestens solange er in lebhafterer Aktion ist, eben dieses Tun als ungeheure Steigerung sozusagen des Quantums von Leben, in unmittelbarerer Nähe zu seiner flutenden Dynamik empfände, als er es an seinen sonstigen Arbeitswirksamkeiten spüren kann.“
Ernst Jünger hat ähnlich schwadroniert, aber der fehlt in dieser Zusammenstellung. Überhaupt kommt die Kriegsrhetorik nur als ein Element in einer Vielzahl von Stimmen vor. Das liegt am Aufbau dieser Sonderausgabe, die ja das gesamte vergangene Jahrhundert sichtet. Dazu wurden vier Blöcke gebildet: 1914 bis1932, 1933 bis 1945, 1946 bis 1988 und 1989 bis 2014. Die Logik dieser Einteilung leuchtet spontan ein.
Paul Tillich und Thomas Mann
Entsprechend finden wir in dem ersten Block bis 1932 Stimmen zum Sozialismus – Nikolai Berdjajew und Rosa Luxemburg - zur Technik - Walter Benjamin - zur Wirtschaftskrise – John Maynard Keynes und Bertrand Russel. Dazu kommt unter anderem ein Ausschnitt aus dem berühmten Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Sigmund Freud zur Bedrohtheit des Friedens.
Bei der Auswahl der Texte hat sich die Redaktion also nicht nur auf Philosophen fokussiert. Sie bilden zwar die Mehrzahl, aber es kommen eben auch Stimmen wie die des Theologen Paul Tillich oder von Thomas Mann vor. Das Verbindende dieser beiden Autoren liegt in ihrem Exil während der Nazizeit. Und der Theologe war gleichzeitig ein Philosoph. Thomas Mann wiederum hat sich wie kein zweiter zeitgenössischer deutscher Autor mit Themen der Theologie und Philosophie auseinandergesetzt.
Wikileaks und Drohnenkrieg
Faszinierend ist auch, wie in dem Abschnitt über die Nachkriegszeit ganz unterschiedliche Themen zusammengestellt sind, ohne dass das Ganze beliebig wirkt. Da gibt es unter anderen die Auseinandersetzung mit der neuen Bedrohung durch die Atombombe – Günter Anders -, die Auseinandersetzungen mit der Studentenbewegung - Theodor W. Adorno - oder mit dem RAF-Komplex - Herbert Marcuse und Jean-Paul Sartre. Und natürlich als unmittelbarer Bezug zu den Schrecken der Naziherrschaft der Eichmannprozess mit dem berühmten Diktum von Hannah Arendt. Der letzte Abschnitt, der bis an diesen Jahreswechsel heranreicht, enthält noch die Themen Wikileaks – Peter Singer - und Drohnenkrieg – Byung-Chul Han.
Eine der schwierigsten philosophischen Fragen ist die nach der Philosophie selbst: Was ist Philosophie? An diesem Heft kann man verschiedene Antworten erkennen:
Die Macht der Philosophie
Philosophie ist immer auch ein Versuch der Zeitdeutung, wie schon Friedrich Wilhelm Hegel und Karl Marx - der eine analytisch, der andere polemisch - festgestellt haben. Und im Rückblick erkennt man mit bestürzender Klarheit, wie zeitgebunden auch jene Antworten sind, die für sich ein hohes Mass an Objektivität in Anspruch nehmen.
Das Zweite, nicht weniger Problematische: Philosophie ist ein Trendsetter. Die Ideen der Philosophen können politische Bewegungen mit guten oder fatalen Folgen auslösen. In der vorliegenden Ausgabe ist nicht nur vom Sozialismus die Rede, sondern auch vom Futurismus, der die geistigen Grundlagen des italienischen Faschismus gelegt hat. Und nicht zu vergessen die Technik in ihrer ganzen Ambivalenz, die ohne die Philosophie nicht zu einer derartigen Macht in unserer Kultur hätte werden können.
Als drittes wird deutlich, dass sich keine scharfe Grenze zwischen genuiner Philosophie und anderen Disziplinen ziehen lässt. So nehmen im Abschnitt über die Nachkriegszeit der Philosoph Peter Sloterdijk und der Soziologe Ulrich Beck zur Katastrophe von Tschernobyl Stellung. Es wäre spannend, beide Texte daraufhin zu analysieren, welche Anteile genuiner Philosophie sie enthalten, wo es sich eher um Kulturkritik handelt und was im Fall von Ulrich Beck als Soziologie bezeichnet werden kann.
Auch für diese Sonderausgabe des Philosophie Magazins gilt die Feststellung, dass über die Auswahl gestritten werden kann, wobei sie hier ganz besonders gelungen scheint. Es liegt am Leser, die Anregungen nicht nur aufzugreifen, sondern selbstständig zu vertiefen.
Philosophie Magazin, Sonderausgabe 01/2014: 1914 bis 2014. Das Jahrhundert im Spiegel seiner grossen Denker