Urs Stahel, Mitbegründer und Direktor des Fotomuseums, hat ein ausgeprägtes Sensorium für die Vielschichtigkeit der Fotografie. „Was ist sie denn, die Fotografie?“ fragte er vor Jahren einmal halb ironisch. In ihrer Allgegenwart entzieht sie sich der Fassbarkeit – erst Recht durch ihre digitalen Präsenz und Flüchtigkeit. Wozu kann da ein Museum dienen?
Ein Museum kann Schneisen schlagen. Es kann einzelnen Fotografinnen und Fotografen Raum bieten und es kann Themen definieren. Beides ist in den letzten zwanzig Jahren geschehen. Weil Urs Stahel nach dem erfolgreichen Aufbau des Museums in Winterthur auch wieder an anderen Orten arbeiten möchte, wird er seiner Arbeit als freier Kurator nachgehen.
Jubiläum und Abschied sind Anlässe für Rückblicke und Resümees. Ein Resümee besteht darin, dass es dank des Fotomuseums und der damit verbundenen Fotostiftung in Winterthur gelungen ist, einem breiten Publikum etwas von der Vielfalt der Fotografie zu vermitteln. Mit seinem ihm eigenen stillen Humor erzählt Stahel, wie er am Anfang gefragt wurde, was denn in einem Fotomuseum gezeigt werden solle: Kameras etwa?
Das klare Profil der Sammlung
Während international Fotografien schon längst in die bekanntesten Museen Eingang gefunden hatten und auf dem Kunstmarkt einen regelrechten Boom auslösten, tat sich die Schweiz damit noch schwer. Dass sich auch in der Schweiz die Einstellung zur Fotografie stark gewandelt hat, ist ein grosses Verdienst der Ausstellungsmacher in Winterthur.
Die zahlreichen vielbeachteten Ausstellungen seit 1993 sind das eine, der Aufbau einer eigenen Sammlung sind der andere Faktor in der Erfolgsbilanz. Dabei verfolgte Stahel eine bemerkenswerte Strategie. Da seine finanziellen Mittel nur ein sehr gezieltes Arbeiten zulassen, entschloss er sich, nur Werke ab 1960 zu erwerben. Denn frühere Bilder waren schlicht und einfach zu teuer. Wie von selbst ergibt sich daraus ein klares Profil, und die Sammlung umfasst jetzt etwa 4´000 Werke von 400 Künstlern, die auch online zu sehen sind.
Der Abschied von Urs Stahel fiel mit der Eröffnung von drei Ausstellungen zusammen: Unter dem Titel „This infinite World“ zeigt das Fotomuseum bis zum 9. Februar 2014 seine zehnte Set-Ausstellung. Am Beispiel von 21 Künstlern wird gezeigt, wie mit der Kamera Erzählungen gestaltet werden. Die Fotostiftung wiederum präsentiert bis zum 25. August „Adieu la Suisse“. Hierbei handelt es sich um Fotografien, die die Schweizer Landschaften beziehungsweise ihre zunehmende Zerstörung oder ihr Verschwinden durch Zersiedelung, wie der Direktor der Fotostiftung, Peter Pfrunder, erläuterte, zum Thema haben. - Beide Ausstellungen werden noch besprochen.
Engagierte Fotografie von Lewis Hine
Die dritte Ausstellung ist dem Fotografen Lewis Hine (1874 - 1940) gewidmet. Sie ist geradezu exemplarisch für den Sinn und Zweck eines Fotomuseums und für das Geschick seiner Leitung bei der Auswahl der Themen. Denn mit Lewis Hine verbindet sich die Fotografie als Dokumentation und Kunst. Und schon der erste Blick auf die ausgestellten Barytabzüge schlägt die Betrachter in den Bann. So informativ und gut der Begleitkatalog auch ist, er ersetzt nicht den Blick auf die Originale, durch die der Fotograf ganz unmittelbar zu sprechen scheint.
Das grosse Thema von Lewis Hine sind die Armen, die Ausgestossenen und jene Menschen, die mit unglaublicher Energie, Willenskraft und Zähigkeit ein neues Leben beginnen. Die ersten Bilder stammen von 1905 und zeigen Immigranten bei den berüchtigten Befragungen und Kontrollen auf Ellis Island, New York. Wir sehen das Leben in den Mietskasernen, spielende Kinder in Hinterhöfen, wir sehen Krankheit, Resignation, aber auch den Willen zur Selbstbehauptung. Im Laufe der Jahrzehnte kommen Bilder aus der Arbeitswelt hinzu. Da sehen wir neben allen Härten auch Arbeiter und Mechaniker, die mit ganzer Hingabe an ihren Maschinen arbeiten und aus deren Mienen die Faszination ihrer Tätigkeit spricht.
Erschreckend wiederum die Bilder aus dem Europa des Ersten Weltkriegs. Bei Amiens kehrt ein Ehepaar in das vom Krieg verwüstete Haus zurück, in Belgrad sieht man einen traurigen Jungen, irgendwie grotesk ausstaffiert, eine Bratsche haltend. Bildunterschrift: Christmas Fiddler 1918. Oder unvorstellbar verlumpte und elende Kinder humpeln in Serbien 1918 auf einer Eisenbahnstrecke heimwärts. - Diese Bilder wird man so schnell nicht vergessen.
Lewis Hine, der anfangs Biologie und Geografie unterrichtete, studierte 1904 an der „Columbia School of Social Work“. Vom „National Child Labor Committee“ NCLC erhielt er Aufträge zur Dokumentation der Kinderarbeit. Man könnte ihn auch als den Charles Dickens der Fotografie bezeichnen. Denn er beschreibt die soziale Wirklichkeit nicht weniger krass und genau – vom Leben der Immigranten bis zu den Arbeitsbedingungen in Pittsburgh. Seine Bilder muten oftmals an, als stammten sie aus einem Dritte-Welt-Land.
Lewis Hine war ein Besessener - ganz ähnlich wie Eugene W. Smith, der unter anderem auch in Pittsburgh fotografiert hat und sich dabei völlig verlor. Ursprünglich hatte Smith einen klar umschriebenen vergleichsweise kleinen Auftrag der Agentur Magnum Photos. Aber Pittsburgh fesselte ihn mehrere Jahre. Und ganz ähnlich wie Smith endete auch Hine arm und verbittert. Es ist der Sorgfalt seiner Nachlassverwalter und dem George Eastman House, International Museum of Photography and Film, Rochester, USA, zu danken, dass seine Bilder überhaupt erhalten sind. Darüber sprach die Kuratorin vom George Eastman House, Alison Nordström, bei der Eröffnung in Winterthur.
Bei den Bildern von Lewis Hine handelt es sich um engagierte Fotografie. Die Ausstellung ist übertitelt: „Fotografieren, um zu verändern.“ Das hätte Lewis Hine gefallen. Aber verändert die Fotografie wirklich etwas? Oder die Literatur wie die von Charles Dickens? Eines ist sicher: Schnell, glatt und einfach lässt sich diese Frage nicht beantworten.
Die Ausstellung ist bis zum 25. August 2013 im Fotomuseum Winterthur, Grüzenstrasse 44, zu sehen.