Seine Attacken gegen die Kirche sind mutig. Er lebt in einer Zeit, in der die Kirche stark ist. Sie sitzt mit den Machthabern im gleichen Boot und bestimmt, was das Volk darf und was nicht. Etwas darf es bestimmt nicht: selber denken.
Rousseaus Angriffe richten sich nicht nur gegen die Kirche, sondern gegen die Obrigkeit als solche. Zusammen mit Voltaire und Montesquieu arbeitet er auf den Sturz von Monarchie, Aristokratie und Theokratie hin. Rousseau, der Aufklärer – ein Genfer als Wegbereiter der Französischen Revolution, der Türöffner zur Demokratie.
Er verhöhnt die Scheinheiligkeit der Kirche. Er spottet über die angebliche Keuschheit des Kirchenpersonals. Er ist entsetzt, wie die Kirche die Homosexualität in ihren Reihen vertuscht.
“Eigenartige Abneigung gegen den Katholizismus
Seine Attacken haben Folgen. Aristokratie und Kirche gehen zum Gegenangriff über. Er wird verfolgt, muss fliehen, seine Bücher werden verbrannt. In Pamphleten, Schmähschriften und Hirtenbriefen wird er verunglimpft. Diese Hatz steigert seinen Hass noch mehr – und treibt ihn in die Einsamkeit.
Aufgewachsen ist Jean-Jacques im streng calvinistischen Genf. Die Kirche nimmt wenig Platz in seiner Kindheit ein. Zwar sind sein Grossvater und sein Onkel Pfarrer, doch das prägt ihn wenig. Geschädigt haben ihn die sittenstrengen Calvinisten wohl nicht. Seine Welt waren Bücher, aber nicht die Bibel.
In seinen Bekenntnissen beschreibt er „eine eigentliche Abneigung gegen den Katholizismus, den man uns als einen schrecklichen Götzendienst schilderte und deren Geistlichkeit man uns in den schwärzesten Farben malte“.
Der Protestant wird Katholik
Doch dann wird der Protestant Rousseau Katholik, eher gegen seinen Willen. Mit knapp 16 Jahren flieht er aus seiner Heimatstadt – und weiss nicht wohin. Vor den Toren von Genf, im savoyischen Dorf Confignon, trifft er Herrn von Pontverre, einen katholischen Pfarrer. „Ein Frömmler“, wie Rousseau sagt. Der schickt ihn in ein katholisches Heim nach Annecy in Hochsavoyen. Dort werden junge Leute aufgenommen, die zum Katholizismus übertreten wollen. Doch will er zum Katholizismus übertreten? Er hat keine Wahl. Nach Genf zurück kann und will er nicht. Und hier in katholischen Landen muss er wohl Katholik werden.
So wandert er wie Hannibal über die Alpen und gelangt nach Turin. Dort im Hospiz der Katechumenen soll er katholisch getauft werden. Doch er tut sich schwer. „Je mehr ich darüber nachdachte“, schreibt er in seinen Confessions, „desto mehr empörte ich mich gegenüber mir selbst und ich seufzte über das Los, das mich dahin getrieben hat“.
“Die grössten Schlampen, die Gottes Stall verpestet haben“
Aber „die Dinge sind zu weit fortgeschritten“. Zwar lobt er jetzt die Protestanten. Sie sind „im allgemeinen besser unterrichtet als die Katholiken“ Die Lehre der Protestanten „fordert Erörterung“, jene der Katholiken verlangt „Unterwerfung“.
Zynisch, farbig und ätzend beschreibt er die Zustände im katholischen Hospiz. Da befinden sich auch junge Frauen, die zum Katholizismus übertreten sollen. Das sind „die wohl grössten Schlampen und die gemeinsten Stromerinnen, die je Gottes Stall verpestet haben“.
Wenig schmeichelhaft geht er mit den Geistlichen um. Ein Lazarist im Seminar soll ihn Latein lehren. „Er hatte glatte, fette, schwarze Haare, ein Pfefferkuchengesicht, eine Büffelstimme, ein Nachteulenblick und Schweinsborsten wie die eines Hampelmanns“.
Ein älterer Priester unterrichtet ihn in der „wahren Lehre“. Doch Rousseau sträubt sich, argumentiert dagegen, beginnt zu streiten. Der Priester gibt auf. Er beauftragt einen jüngeren, den Widerspenstigen zu zähmen. Der Jüngere war „ein Schönredner, das heisst ein Phrasenmacher und mit sich zufrieden, wie nur je ein Gelehrter war“.
Sexuelle Nötigung: Bestraft wird das Opfer
Schon bald erfährt er, wie die Kirche mit Homosexuellen umgeht. Er beschreibt ein „übles, recht widriges kleines Abenteuer“. Im Hospiz befindet sich eine Gruppe Nordafrikaner. Einer von ihnen hat sich in Rousseau verliebt. Er küsst ihn „mit einer Glut, die mir sehr unangenehm war“. Er bittet ihn in sein Bett. Rousseau lehnt ab. Der Afrikaner ergreift seine Hand. Es kommt zu „anstössigen Vertraulichkeiten“, zu sexueller Nötigung. Rousseau reisst sich los und erzählt allen alles.
Doch nicht der Täter wird bestraft, sondern das Opfer. Rousseau kriegt einen strengen Verweis, weil er alles erzählt hat. Der Verwalter sagt, ihm sei in der Jugend das gleiche geschehen und „er habe darin nichts so Schreckliches gefunden“.
“Nach gutem Brauch dürften Priester verheiratete Frauen schwängern“
Nicht alle Geistlichen widern ihn. Er macht Bekanntschaft mit einem jungen Abbé aus Faucigny. Er heisst Gâtier, hat eine „gefühlvolle, empfängliche und liebliche Seele“. Er wird in Rousseaus Erziehungsroman „Emile“ eine Rolle spielen.
Doch als Vikar verliebt sich Gâtiers in ein Mädchen und schwängert es. Er wird ins Gefängnis geworfen, beschimpft und weggejagt.
Zynischer Kommentar von Rousseau: „Die Priester dürfen nach gutem Brauch nur verheiratete Frauen schwängern.“
So wird er denn doch getauft – eher contre coeur. Er kehrt zurück ins Heim in Annecy, wo seine angebetete Heimleiterin auf ihn wartet. Auch sie war zum Katholizismus übergetreten, wohl aus finanziellen Gründen. Sie kriegt vom König eine jährliche Pension.
Ende des katholischen Abenteuers
Mit dreissig Jahren zieht Rousseau endgültig nach Paris. Jetzt wird er Schriftsteller, und das gefällt nicht allen. Sein erstes grosses Werk, der erste „Discours“, erzürnt zwar die Obrigkeit und die Kirche. Doch noch drückt man ein Auge zu. Das Werk findet reissenden Absatz; Rousseau ist berühmt. Er kehrt nach Genf zurück. Mit 42 Jahren tritt er wieder der calvinistischen Kirche bei. Sein katholisches Abenteuer dauerte 26 Jahre. In dieser Zeit hat er nie eine Kirche oder eine Messe besucht. Die Genfer sind stolz, Rache an den verhassten Katholiken zu üben.
Zurück in Paris schreibt Rousseau den zweiten „Discours“. Es folgen der Erziehungsroman „Emile“ und der „Gesellschaftsvertrag“. Jetzt ist der Teufel los. Obrigkeit und Kirche empfinden die Werke als offene Kriegserklärung. Im „Emile“ fordert Rousseau, die Kirche dürfe keinen Einfluss auf die Erziehung der Kinder nehmen. Christophe de Beaumont, der Erzbischof von Paris, erklärt, die Schrift sei mit dem Christentum unvereinbar. Emile würde „die Grundlagen der christlichen Religion zerstören“ und enthalte „eine grosse Zahl von Sätzen, die falsch, anstössig, gehässig gegen die Kirche und ihre Diener und gotteslästerlich seien“.
“Anti-Christ“, „Atheist“
Bei seiner Attacke geht es Rousseau nicht nur um die katholische Kirche, sondern um die Kirche schlechthin – auch um die protestantische. Das merkt man auch in Genf. Deshalb stehen jetzt auch die Calvinisten gegen ihn auf. Jetzt ist er weder Katholik noch Protestant.
Von den Kanzeln in Frankreich, Genf und Bern wird gegen ihn gewettert. Das Volk wird aufgehetzt. Er wird als „Anti-Christ“ bezeichnet, als „Atheist“ und „Barbar“.
Ist Rousseau überhaupt ein Christ? Nach der Rückkehr zum protestantischen Glauben besucht er in Paris ab und zu eine holländische reformierte Kirche. Im Exil in Môtiers im Val de Travers pflegt er zunächst gute Beziehungen zum protestantischen Pfarrer. Doch das sind gesellschaftliche Verpflichtungen.
“Verantwortungsloser Heuchler“
Sein Verhalten ist nicht immer christlich. In seiner Kindheit stiehlt er und pisst in Suppentopf der Nachbarin, während sie in der Kirche weilt. Ein hübsches Mädchen bezichtigt er des Diebstahls eines Schmuckbandes, obwohl er das Band selbst gestohlen hat. Das Mädchen wird entlassen. Wenig christlich zeigt er sich auch in Lyon: Ein Freund von ihm bricht auf der Strasse zusammen; Rousseau macht sich aus dem Staub. Wenig edel verhält er sich gegenüber Madame de Warens. Sie, die ihn aufgenommen, gefördert, bemuttert und geliebt hat, erhält keine Hilfe von ihm, als sie ins Elend stürzt. Und natürlich der Hauptvorwurf: Er verbannt seine fünf Kinder ins Findelhaus, was ihm das Image eines „verantwortungslosen Heuchlers“ einträgt.
All diese christlichen Untaten beschreibt er in den Confessions detailliert. Offen bekennt er sich zu seinen Verfehlungen – so, als ob er sie beichten wollte. Doch er bittet nicht den lieben Gott um Vergebung, sondern die Leser. Trotz seiner Missetaten: Die Werte, die Rousseau predigt, sind durchaus christlich. Mit Vehemenz setzt er sich für die Armen ein, für die einfachen Leute. Er glaubt an das Gute im Menschen.
Flucht in die Natur
Für kirchliche Institutionen allerdings hat er nichts übrig. „Mein Geist, vermag keinerlei Art von Joch zu ertragen, schreibt er in den Confessions, auch das kirchliche Joch nicht. Die Erbsünde lehnt er explizit ab.
Er ist ein Heimatloser, keine Kirche, keine Staatsangehörigkeit, ständig auf der Flucht, immer auf der Suche nach der grossen Liebe, die er längerfristig nie findet. Er ist ein Einsiedler, obwohl er nie allein ist. Immer hat er Freunde, die ihm beistehen. Und Thérèse ist immer da.
Doch er liebt die Einsamkeit, er will Aussenseiter sein. Er wird nicht ausgeschlossen von der Gesellschaft, er schliess sich aus. Er flüchtet sich in die Natur. Wie Franz von Assisi spricht er mit den Vögeln. „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers der Dinge hervorgeht, alles verdirbt unter den Menschen.“ Also: „Der Mensch ist von Natur aus gut“.
Seine Kirche ist die Natur. Er schwärmt von seinen einsamen Spaziergängen im Westen von Paris, „jene herrlichen Tage, an denen ich allein war… mit der ganzen Natur und ihrem unbegreiflichen Schöpfer“. Er erlebt den Sonnenaufgang und hofft, dass ihn heute keine Besucher stören.
Pantheistische Züge
Im Wald suchte er „einen wilden Fleck, ein verlassenes Plätzchen, wo keine Spur von Menschenhand zu entdecken war, wo sich kein Störenfried zwischen mich und die Natur drängen konnte“. Er lobt das Gold des Ginsters und das Purpur des Heidekrauts. Er spricht von der „Majestät der Bäume, die mich mit ihrem Schatten deckten."
Im vierten Buch der Confessions schreibt er: „Ich brauche Giessbäche, Felsen, Tannen, dunkle Wälder, Berge … Abgründe neben mir, so dass ich Angst bekomme“. Er spricht von der „betäubenden Ekstase der Natur“. Seine Lobpreisungen tragen pantheistische Züge. In der Natur ist Gott. Vom biblischen Gott spricht er kaum. In der Natur erlebt er „seinen“ Gott.
„Bald erhob sich mein Denken vom Boden der Erde zu allen Wesen der Natur, zu dem allgemeinen Zusammenhang der Dinge, zu dem unbegreiflichen Wesen, in dem alles ist.“ - „Ich sah mich im weiten Raum schweben“, schreibt Rousseau in einem Brief an einen Freund, „mein Wesen verrann in der Unendlichkeit. … Wenn ich alle Geheimnisse der Natur entschlüsselt hätte, wäre ich sicher nicht so glücklich gewesen.“
Das göttliche Wesen ist die Natur selbst. Mit diesem Denken hat er Lessing, Kant und Herder beeinflusst. Seine Naturbeschreibungen haben Generationen von Schriftstellern und Malern zum Schwärmen gebracht.
Keine Hölle
Die grossen Städte hasst er. Dort wird er krank und depressiv. Immer mehr hasst er auch Besucher. Er will vor allem allein sein. So zieht es ihn immer wieder hinaus in die Wälder, in die Schluchten, an die Wasserfälle. Mit Pathos und Leidenschaft beschreibt er die Landschaften am Genfersee, im Wallis und in Neuenburg. Dort an den rauschenden Bächen betet er. Er betet nicht, indem er niederkniet und den lieben Gott anruft, sondern indem er dem Rauschen der Bäche zuhört.
Und trotzdem. Manchmal hat er Angst vor der Hölle, die es in seinem Universum nicht geben darf. „Wenn ich jetzt sterbe“, fragt er sich, „komme ich dann in die Hölle?“ Er kommt auf die verrücktesten und lächerlichsten Ideen.
Er provoziert eine Vorhersage. Er will einen Stein gegen einen Baum werfen und sagt sich: Wenn ich ihn treffe, komme ich nicht in die Hölle. Doch er manipuliert das Glückt. Er sucht sich einen ganz dicken Baum und wirft den Stein von ganz nah. Er trifft – keine Hölle.
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