Rousseau ist beides: Lump und Blumenkind. Doch der Genfer ist tausendmal mehr. Nur wenige haben die Welt so umgekrempelt wie er. Er ist einer der phantastischsten Geister der letzten Jahrhunderte.
Jene, die sein tricentenaire jetzt am lautesten feiern, hätten eigentlich keinen Grund dazu. Sie, die Franzosen und Genfer, haben ihn davongejagt, zur Verhaftung ausgeschrieben, seine Bücher verbrannt, ihn als „wildes Tier“ bezeichnet,als „Antichrist“ und „Bordellbesucher".
"Meine Geburt war mein erstes Unglück"
Rousseaus Leben ist voll von Leiden und Verzweiflung, voller Rückschläge und Ränkespiele. Und vor allem: voller Frauen. „Mein erhitztes Blut füllte unaufhörlich mein Hirn mit Mädchen und Frauen“. Er kann kaum an einer Frau vorbeigehen, ohne sich zu verlieben. Doch: „Meine Liebschaften gingen nie glücklich aus“.
„Meine Geburt war mein erstes Unglück“, schreibt Rousseau in seiner Lebensbeichte, den „Confessions“. „Ich wurde schwächlich geboren und kostete meiner Mutter das Leben“. Sie, Suzanne, stirbt wenige Tage nach seiner Geburt im Kindbett.
Das Geburtsthaus liegt in der Genfer Altstadt. Sein Vater ist Uhrmacher. Jean-Jacques hat kaum eine Schule und nie eine Universität besucht. Er, einer der grössten Intellektuellen des 18. Jahrhunderts, wird später sagen: „Ich kann nur allein lernen“. Schon früh beginnt er zu lesen. Er verschlingt alles, was ihm in die Hände kommt. Mit sieben Jahren liest er Plutarch und Homer.
Mit zehn Jahren hat er sein erstes sexuelles Erlebnis. Er wird zu einem Pfarrer am Fuss des Genfer Hausberges, des Salève, in Obhut gegeben. Die Schwester des Pfarrers, die 30-jährige Gabrielle, wendet die üblichen Erziehungsmethoden an: sie schlägt ihn auf den Hintern. Das erregt ihn. Gabrielle merkt es – und schlägt ihn nicht mehr.
Er küsst den Boden, auf dem sie geht
Bei einem Gerichtsschreiber soll er eine Lehre machen. Er taugt nichts. Er wird als Esel bezeichnet und davongejagt. Jetzt macht er eine Lehre als Graveur, als Kunststecher. Sein Meister, Abel Ducommun, ist jung und brutal. Oft schlägt er seinen Lehrling halbtot. Das wird Folgen haben.
Genf ist damals eine unabhängige Republik mit 18‘000 Einwohnern. Am 14. März 1728 geschieht es: Jean-Jacques spielt mit Freunden vor der Stadtmauer. Als sie am Abend zurückkehren wollen, ist es zu spät. „Ich eile aus Leibeskräften, atemlos und ganz in Schweiss gebadet.“ Doch die Zugbrücke hebt sich, das Stadttor schliesst. Er fürchtet eine schlimme Strafe seines brutalen Meisters. Rousseau beschliesst an diesem Abend, Genf zu verlassen.
Er, der Protestant, wandert ins katholische Hochsavoyen, ins Städtchen Annecy. Dort wird der bald 16-Jährige von der 29-jährigen Madame de Warens aufgenommen. Sie leitet ein Heim für Calvinisten, die zum Katholizismus zurückkehren wollen. Rousseau spricht von „einem anmutigen Gesicht, schönen blauen Augen voller Sanftmut, einem blendenden Teint und einem reizenden Busen“. Sie ist die erste Passion in seinem Leben. Er küsst den Boden, auf dem sie schreitet; er küsst das Bett, in dem sie gelegen hat. Später wird sie seine Geliebte. Madame de Warens ist seine eigentliche Erzieherin. Sie hat wesentlichen Anteil, dass er das wird, was er werden wird.
Die reichen Marquisen umhätscheln ihn
Sie schickt ihn nach Turin, wo er zum Katholizismus übertritt – eher widerwillig. In Turin zeigt er auch seine exhibitionistische Seite. Er sucht dunkle Alleen und abgelegene Orte auf und entblösst sich vor Frauen und Mädchen. Später bezeichnet er das als „dummes Vergnügen … mehr lächerlich als verführerisch“.
Er kehrt nach Chambéry zurück, wo Madame de Warens inzwischen wohnt und einen andern Liebhaber hat. Rousseau verlässt sie, wird ein Jahr lang Erzieher in Lyon, wo ihn seine zwei anvertrauten Zöglinge auslachen. Dann trifft er in Paris ein.
Madame de Warens hat nicht nur seine literarische Ader gefördert, sondern vor allem seine musikalische. Jetzt hat Rousseau eine Notenschrift erfunden, die einzig auf Zahlen beruht. Diese Erfindung hat zwar wenig Erfolg, doch sie öffnet ihm die Türen zu den Pariser Salons. Die reichen Marquisen und Prinzessinnen umhätscheln ihn.
Durch solche Beziehungen erhält er die Stelle des Sekretärs des französischen Gesandten in Venedig. Bald schon zerstreiten sich die beiden. Dann ereignet sich die Szene, die noch heute jedes Genfer Schulkind kennt. Rousseau besucht die „brünette, reizende und lebhafte Zulietta“, eine Prostituierte. Doch er versagt. Sie sagt: „Zanetto, lascia le donne e studia la matematica“ (Zanetto“ heisst *Hänschen und Jean-Jacques heisst Hans-Jakob). Rousseau kommentiert später: „Nein, die Natur hat mich nicht für den Genuss geschaffen“.
Die fünf Kinder ins Findelhaus
Er ist jetzt 33. Zurück in Paris lernt er in einem hässlichen Gasthof beim Jardin de Luxembourg die neun Jahre jüngere Thérèse Levasseur (Le Vasseur) kennen. Sie ist hier das Mädchen für alles. Sie kann weder richtig lesen noch schreiben. Er bezeichnet sie als „hübsch und liebeswürdig“. Seine adligen Mäzeninnen sind anderer Meinung. Madame d’Epinay nennt sie „eifersüchtig, dumm, verlogen und geschwätzig“. Rousseau spricht stets sehr zärtlich von ihr. Bis zu seinem Tod bleiben sie zusammen – wenn sie auch 25 Jahre warten muss, bis er sie heiratet.
Mit ihr zeugt er fünf Kinder. Und keines will er behalten. Eine Hebamme muss sie im Findelhaus abgeben, anonym. Thérèse ist zunächst dagegen, dass man ihre Kinder der öffentlichen Erziehung übergibt. Doch Rousseaus Druck ist zu gross. Er erhält Unterstützung von der Mutter von Thérèse. Sie fürchtet, ihr Leben einschränken zu müssen, wenn kleine Kinder da sind.
Zwar ist es damals üblich, dass man Kinder im Findelhaus abgibt. Schon Platon habe gesagt, argumentiert Rousseau, die Eltern sollten ihre Kinder abgeben und der Staat sollte sie erziehen. „Wie könnte ich den Beruf eines Schriftstellers ausüben, wenn häusliche Sorgen und lärmende Kinder mir die Ruhe des Geistes raubten?“
In seinen „Confessions“ schreibt er, er habe seine Kinder abgegeben, „weil ich sie selbst nicht erziehen konnte“. Er hätte sie zwar reichen Frauen übergeben können. Doch „ich bin sicher, dass man sie dann später dazu getrieben hätte, ihre Eltern zu hassen. … Es ist hundert Mal besser, dass sie sie nicht gekannt haben“.
"Lebhafte Reue
Schon bald hagelt es heftige Kritik an seinem Verhalten. Der grosse Menschenfreund will nichts von seinen Kindern wissen. Dies hat seine Reputation bis heute arg beschädigt. Rousseau versucht sich mühsam zu rechtfertigen. Voltaire, sein Erzfeind, verspottet ihn öffentlich. Manche Freunde wenden sich von ihm ab. Immer wieder wird in den Pariser Salons über die Sache getuschelt. „Wie kann einer so gescheit über Erziehung schreiben, wenn er seine eigenen Kinder im Stich lässt“. So lautet noch heute der gängige Vorwurf. Später liest ihm dann auch noch Jean-Paul Sartre die Leviten.
Immer wieder kommt er in seinen „Confessions“ auf das Thema zu sprechen, das ihn wegen der heftigen Attacken mehr und mehr belastet. Zwar versucht er sich bis zuletzt zu rechtfertigen, doch auch Selbstkritik wird hörbar. „Der Entschluss hat mein Herz nicht immer ruhig gelassen. Ich fühlte, dass ich Pflichten vernachlässigt habe, von denen ich mich nicht entbinden konnte“. Er spricht von lebhafter Reue. Und in den "Confessions" gesteht er: "Ich bin ein Prinz, aber auch ein Schuft". Etwas ist ihm zugute zu halten: Er hat das Thema nie verheimlicht und immer in aller Offenheit darüber gesprochen.
Eine seiner adligen Mäzeninnen, die Marschallin de Luxembourg, will schliesslich sein ältestes Kind aus dem Findelhaus holen. Sie beauftragt damit ihren Kammerdiener. Doch es finden sich keine Spuren mehr.
Plötzlich - wie vom Blitz getroffen - ändert sich im Oktober 1749 sein Leben. Er ist jetzt 37 Jahre alt. Er marschiert auf der Landstrasse von Paris nach Vincennes. Dort will er seinen Freund Diderot im Gefängnis besuchen. Während des Gehens liest er die Zeitung, den Mercure de France. Er sieht eine Annonce: Die Akademie zu Dijon hat einen Wettbewerb ausgeschrieben. Sie ruft dazu auf, eine Abhandlung einzureichen, und zwar zum Thema: „Der Einfluss der Wissenschaften und der Künste auf die Sitten“.
Zwölf Jahre, die die Welt verändern
Theatralisch beschreibt Rousseau in seinen „Bekenntnissen“ später, wie er plötzlich erleuchtet wird. Eine halbe Stunde liegt er in Ekstase und in einer „an Wahnsinn grenzenden Erregung“ unter einem Baum. Er bebt und weint. Jetzt weiss er: Ich bin Schriftsteller.
Jetzt beginnt eine zwölfjährige Schaffensperiode, die die Welt verändert. In dem ersten „Discours“, den er in Dijon einreicht und der dann prämiert wird, geisselt er Professoren, Lehrer, Schriftsteller und Verleger. Sie seien eitle hohle Phrasendrescher. Die Wissenschaften und die Künste würden mehr Schaden als Gutes anrichten. Luxus und Zügellosigkeit seien vom Teufel.
Das Werk wird schnell gedruckt, der Erfolg ist gigantisch. Doch der Rummel um ihn lastet auf seiner Gesundheit. Rousseau hat Zeit seines Lebens Harndrang wegen einer verkrümmten Harnröhre. Lang Zeit trägt er einen Katheder. Er fühlt sich schwach und dem Tode nahe. Ein Leben lang ist er ein Hypochonder.
Er flieht aus der Grossstadt nach Passy. Dort schreibt er in drei Wochen das Singspiel „Der Dorfwahrsager“, ein ländliches Boulevardstück. König Louis XV und seine Pompadour sind begeistert. Sie laden ihn zur Audienz. Doch Rousseau geht nicht hin. Er fürchtet, während der Audienz in die Hosen zu machen.
Der "erste Sozialist"
Jetzt schreibt er einen zweiten „Discours“. Da ist es, das Blumenkind. Vor allem stempelt ihn der Text zum „ersten Sozialisten“. „Es verstösst gegen das Gesetz der Natur“, schreibt Rousseau, „dass eine Handvoll Menschen im Überfluss erstickt, während es der ausgehungerten Menge am Notwendigsten fehlt.“ Was von den Besitzenden und den Aristokraten gar nicht geschätzt wird: Rousseau wendet sich gegen das Eigentum.
Er fordert ein Leben im Zustand der Natur, so wie die Wilden lebten. Im Naturzustand sei der Mensch gut, erst die Gesellschaft mache ihn böse. Voltaire schüttelte den Kopf: Beim Lesen des Buches bekomme man Lust „auf allen Vieren zu gehen“.
Die Kritik an diesem zweiten „Discours“ erträgt er schlecht. Er will Paris verlassen. Die reiche Madame d’Epinay offeriert ihm das Gartenhaus ihres Schlosses in Montmorency, nördlich von Paris. Hier streift er durch Wälder und Wiesen. Er spricht von der „betäubenden Ekstase der Natur“. Für ihn ist die Natur Kirche – Rousseau, der Pantheist. Er verachtet die Intellektuellen, er lobt jene, die ein einfaches Leben führen.
Jetzt geschieht es, und von jetzt an geht es bergab. Er verliebt sich unsterblich in die bald 30-jährige Gräfin d‘Houdetot. Er ist „liebestrunken“, erfüllt „von köstlichem Schauer“. „Wie viele Tränen vergoss ich auf ihrem Schoss“. Doch sie will nicht und „zog mich in den Abgrund.
Da wird geseufzt und gestöhnt
Sie wird zur Hauptfigur seines erfolgreichstes Werkes: „Julie oder Die neue Héloise“, ein schmachtender Liebesroman. Da wird geseufzt und gestöhnt. „Das Feuer vom Himmel ist nicht verzehrender als deine Küsse“. All seine Gefühle, die er für Madame d’Houdetot empfindet, legt er in diesen Roman. Das Buch ist der grösste Bestseller des 18. Jahrhunderts. Es ist damals nicht üblich, dass Männer so schreiben.
„Die neue Héloise“ ist auch eine feurige Hymne an die Natur, an den Genfersee, an die Waadtländer und die Walliser Bergwelt. Das Buch war der Startschuss für den Tourismus in der Schweiz und hat Dutzende Dichter und Maler in unser Land gebracht. Rousseau sollte posthum zum Ehrenpräsidenten von Tourismus Schweiz ernannt werden.
In Montmorency schreibt Rousseau jetzt jenes Werk, das die Erziehungsmethoden des 18. Jahrhunderts völlig über den Haufen wirft. „Emile“ gilt als Grundlage moderner Erziehung. Rousseau ruft den Eltern zu: Erzieht die Kinder nicht, sie müssen sich selbst erziehen. Er wendet sich gegen Zwang und Befehl. Durch eigene Erfahrung müssten die Kinder lernen, was gut und nützlich ist. „Tut alles, indem ihr nichts tut“. Lasst die Kinder spielen, belehrt sie nicht immer.
"Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten"
1761 schreibt Rousseau den „Contract social“, den Gesellschaftsvertrag. „Der Mensch ist frei geboren“, heisst es zu Beginn, „und überall liegt er in Ketten“. Der Contract gilt als Wegbereiter der direkten Demokratie. Während der Französischen Revolution wird er zur Bibel von Robespierre. Rousseau fordert die Abschaffung der Monarchie in Frankreich und der Aristokratie in Genf.
Das Werk wird überall verboten. In Paris und Genf wird Rousseau zur Verhaftung ausgeschrieben. Sowohl „Emile“ als auch der „Gesellschaftsvertrag“ werden verbrannt. Die Mächtigen schätzen es gar nicht, dass da einer verlangt, das Volk müsse entscheiden und nicht sie. Und die Geistlichen protestieren, weil Rousseau verlangt, die Kirche solle sich aus der Erziehung der Kinder heraushalten.
27 Jahre vor der Französischen Revolution ist Rousseau fast ein Hellseher. „Wir nähern uns dem Zustand der Krise und dem Jahrhundert der Revolution“, schreibt er. „Der Grosse wird klein, der Reiche wird arm, der Monarch wird Untertan“.
"...jetzt sage ich nichts mehr"
Rousseau muss aus Paris fliehen. Er findet in Môtiers im preussischen Fürstentum Neuenburg Zuflucht. Gut drei Jahre bleibt er dort. Dann wiegelt auch dort die Kirche die Bevölkerung auf. Er und Thérèse fliehen auf die Petersinsel im Bielersee. Doch auch dort dürfen sie nicht bleiben. Via England kehren sie nach Frankreich zurück, irren jahrelang im Land herum und heiraten schliesslich.
Zurück in Paris richten sich Jean-Jacques und Thérèse in einer Wohnung im 4. Stock in der rue Platrière ein. Immer mehr verfällt er Wahnvorstellungen. Er ist verbittert. „Ich habe den Menschen die Wahrheit gesagt, sie haben sie schlecht aufgenommen, jetzt sage ich nichts mehr“.
Am 2. Juni 1778 stirbt er in Ermenonville bei Paris. Dort wird er in einem mit Blei ausgekleideten Eichensarg auf einer kleinen Insel bestattet. 1794 überführen ihn die Revolutionäre ins Pantheon.