Mit praktisch vollkommener Gleichgültigkeit hat die internationale Öffentlichkeit ein Problem quittiert, das sich in den letzten Jahren aufgebaut und jüngst gefährlich eskaliert ist.
Die Geschichte der Frage der Souveränitätsrechte, der Küstengewässer und des Festlandsockels in der Ägäis ist lang und komplex. Es spielen auch andere Konflikte hinein wie die Zypernfrage und verstärken dieses Problem.
Im Jahr 1996 war ich in Rhodos in den Ferien. In diesen Wochen flammte der Konflikt auf. Er hatte sich an der unbewohnten Felseninsel Imia entzündet, deren Status nach türkischer Lesart umstritten ist. Da ich ganz in der Nähe war, stand ich mehrmals pro Nacht auf, um Radio zu hören und bei Bedarf Fersengeld zu geben. Der Konflikt wäre bei einem Haar eskaliert. Hätte der damalige griechische Ministerpräsident Simitis nicht derart besonnen agiert, wäre eine kriegerische Auseinandersetzung nicht zu vermeiden gewesen. Dazu kam es allerdings nicht und ich konnte meine Ferien auf Rhodos geniessen. Wo liegt das Problem?
Die Uno-Seerechtskonvention
Seit dem 17. Jahrhundert gibt es eine Regel, wonach die Küstengewässer drei Seemeilen betragen und alles, was darüber hinausgeht, internationale Gewässer sind. Das war für viele Länder zu wenig und liess auch Interpretationsspielraum zu. Ist damit zum Beispiel der Festlandsockel mitgemeint, auf dem sich vorgelagerte Inseln befinden?
Seit den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden verschiedene Konferenzen durchgeführt, um diese Fragen zu regeln und eine praxistaugliche Lösung zu finden. Diese Verhandlungen mündeten in das internationale Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ) von 1982, das alle Nutzungsarten der Meere regeln soll. Das Übereinkommen fasst das kodifizierte Seerecht zusammen, legt die vorher umstrittene Breite des Küstenmeeres und seiner Anschlusszone fest und entwickelt die Regelungen zum Festlandsockel fort. Es führt neu eine ausschliessliche Wirtschaftszone (AWZ) ein mit besonderen Rechten der Küstenstaaten.
Griechenland und Zypern haben dieses Abkommen unterschrieben, die Türkei aber nicht. Da genügend Länder ratifiziert haben, ist das Regelwerk trotzdem verbindlich.
Die Frage der Küstengewässer
Die oben genannte Uno-Seerechtskonvention erlaubt nun jedem Staat, seine Hoheitszone in Küstengewässern auf zwölf Seemeilen auszweiten. Griechenland möchte dieses Recht beanspruchen und trifft damit auf erbitterten Widerstand der Türkei, die Hellas für diesen Fall offen und immer wieder mit Krieg droht. Die Türkei hat zwar dieses Regelwerk nicht unterschrieben und anerkennt es nicht, was sie aber nicht daran gehindert hat, im Schwarzen Meer ihre Küstengewässer auf 12 Meilen auszudehnen.
Würde Griechenland in der Ägäis eine Zwölfmeilenzone durchsetzen, dann bliebe von den internationalen Gewässern kaum etwas übrig, denn keine der griechischen Inseln ist von einer Nachbarinsel weiter als 40 km entfernt; die Ägäis wäre fast ein griechisches Binnenmeer. Die Durchfahrt vom Schwarzen Meer zum südlichen Mittelmeer und damit über den Suezkanal oder die Strasse von Gibraltar zu den Weltmeeren würde grundsätzlich durch griechische Gewässer erfolgen. Auch wenn die türkische Position auf der einen Seite verständlich ist: das ständige Säbelrasseln und die dauernden Drohungen werden keine Lösung bringen.
Es zeigt sich hier bereits ein Muster der türkischen Politik: sich auf ein Abkommen berufen, wenn es passt, es ablehnen, wenn es nicht im eigenen Interessen ist. Die eigene, rechtlich nicht haltbare Position mit Druckversuchen und Säbelrasseln kompensieren. Griechenland lehnt Verhandlungen über den Verlauf der Küstengewässer in der Ägäis ab und verweist die Türkei an den Internationalen Gerichtshof im Haag und versichert, sich einem Schiedsspruch zu unterziehen. Das will aber die Türkei nicht, wissend, dass ihre Position nicht obsiegen würde. Ein solcher Schiedsspruch wäre wohl nicht zu 100%, aber eher auf der griechischen Linie.
Die Bodenschätze und die Ausschliessliche Wirtschaftszone (AWZ)
Ein ähnlicher Konflikt hat sich in den letzten Jahren auch im östlichen Mittelmeer aufgebaut, denn in den letzten Jahren wurden dort Bodenschätze entdeckt: Erdöl und Erdgas.
Das genannte internationale Seerechtsabkommen schafft neu eine sogenannte Ausschliessliche Wirtschaftszone (AWZ). Bis zu einer Ausdehnung von 200 Seemeilen (370,4 km) kann ein Staat ausschliesslich über die natürlichen Ressourcen, also Meeresbewohner und Bodenschätze, verfügen und wirtschaftliche Nutzungen steuern. Es bestehen darüber hinaus jedoch keine Rechte, die sich aus der Souveränität des Staates ergeben. Hoheitliche Befugnisse können daher nur in geringem Masse ausgeübt werden.
Rechtlich wasserdichte Abkommen
Allerdings sind die Meere nicht immer genug gross, damit alle Anrainer eine solche AWZ ausscheiden können, ohne mit den Nachbarn in Konflikt zu geraten. Deshalb haben sich Zypern, Ägypten, Israel und der Libanon an einen Tisch gesetzt und daraufhin in einem Abkommen diese Probleme gelöst. Das Abkommen ist zwar noch nicht vollständig in Kraft, dürfte aber nicht mehr scheitern.
Innerhalb dieser Zone schuf die Republik Zypern eine Ausschliessliche Wirtschaftszone und teilte diese in einzelne Blöcke ein. Das Land schloss dann Verträge mit einem breiten Spektrum von grossen Ölfirmen, um diese Ressourcen auszubeuten. So stellten die Zyprioten sicher, dass auch die Staaten, in denen diese Ölfirmen ansässig sind, ein Interesse haben, dass die Bohrrechte auch tatsächlich ausgeübt werden können. Gleichzeitig sind die Abkommen rechtlich wasserdicht. Es ist der Türkei also nicht möglich, auf legalem Weg Anspruch auf die natürlichen Ressourcen vor Zypern zu erheben, da die Position dieses Landes rechtlich einwandfrei ist.
Die Türkei verletzt internationales Seerecht
Seit dem Überfall auf Zypern hält die Türkei einen Drittel des Territoriums besetzt und hat dort die international nicht anerkannte „Türkische Republik Nordzypern“ („TRNC“) ausgerufen. In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass die Türkei versucht, mittels dieses Brückenkopfs in Zypern doch noch an die Ressourcen zu kommen, die im Meer schlummern. Die Türken schlossen also ein eigenes Abkommen über die Nutzung der nördlich von Zypern gelegenen Seegebiete mit Nordzypern. Da es sich dabei um einen international nicht anerkannten Gänsefüsschenstaat handelt, ist dieses Abkommen rechtlich nichtig, überlappt sich aber natürlich mit einigen Blöcken der zypriotischen AWZ.
Die Türkei ging aber noch einen Schritt weiter: Sie schloss jüngst mit Libyen, das praktisch ein „failed state“ ist, ein Abkommen, in dem die beiden Länder die Einflussbereiche abgrenzen. Wie auch das Abkommen mit der „TRNC“, basiert das Abkommen auf der Seerechtskonvention, die die Türkei nicht ratifiziert hat und deren Anwendung es Griechenland und Zypern verweigert. Gleichzeitig lässt das Abkommen die Republik Zypern sowie Inseln wie Kreta, Rhodos oder das unmittelbar vor der türkischen Küste gelegene Kastellorizo vollkommen unberücksichtigt. Das Abkommen würde eine türkische Nutzung von natürlichen Ressourcen im östlichen Mittelmeer legitimieren. Die Türkei will denn auch weitere Bohr- und Forschungsschiffe in die Gebiete schicken, deren wirtschaftliche Ausbeutung rechtlich Zypern vorbehalten sind. Mit diesem Vorgehen verletzten die Türkei und Libyen, wie oben dargelegt, massiv das internationale Seerecht.
Illegale türkische Bohraktivitäten
Griechenland und Zypern versuchen, auf mehrere Arten zu antworten. Einerseits hat Athen den libyschen Botschafter zum Verlassen des Landes aufgefordert. Andererseits hat der griechische Ministerpräsident Mitsotakis das Problem beim Nato-Gipfel in London anfangs Dezember zum Thema gemacht und dabei auch mit dem türkischen Präsidenten Erdogan ein ernstes Wort gesprochen. Am 7. Januar wird Mitsotakis in Washington erwartet, wo das Thema wieder aufs Tapet kommen soll. Drittens erlässt die Republik Zypern mittlerweile internationale Haftbefehle gegen Personen, die an illegalen türkischen Forschungs- und Bohraktivitäten in der zypriotischen AWZ beteiligt sind und damit die zypriotische Souveränität verletzen. Ein norwegischer Kapitän oder ein ukrainischer Matrose werden es sich deshalb zum Beispiel in Zukunft zweimal überlegen, ob sie sich an einer solchen Expedition beteiligen möchten.
Man könnte natürlich argumentieren, dass sich das Problem nicht stellen würde, wenn man das Erdöl einfach im Untergrund liesse. Einerseits verstärkt der Run auf die natürlichen Ressourcen sicherlich das Problem, andererseits wird dieses nicht plötzlich verschwinden, wenn man auf deren Ausbeutung verzichtet. Und sicher macht die Tatsache, dass das Zypernproblem in diese Frage hineinspielt, eine Lösung alles andere als einfacher.
Türkische Einschüchterung
Das türkische Narrativ geht auch hier wie oben. „Griechenland hat sein Territorium seit seiner Befreiung vom Osmanischen Reich um 400% ausgedehnt – praktisch vollständig zu Lasten der Türkei. Damit ist jetzt Schluss. Auch wir haben ein Recht auf Bodenschätze. Auch wir haben ein Recht auf einen Küstenstreifen. Und in Zypern müssen die Türkischzyprioten an der Ausbeutung der Ressourcen auf gerechte Art beteiligt werden.“
Der türkische Präsident Erdogan hat jüngst wieder in einem Interview in ähnlicher Art argumentiert und diese Haltung verfängt bei der türkischen Öffentlichkeit. Auch wenn man das subjektiv verstehen kann, so legitimiert es nicht, Grenzveränderungen mit Gewalt rückgängig zu machen. Die Türkei zeichnet immer wieder Karten, auf denen einige Inseln wie die Imia-Gruppe, aber auch das südlich von Kreta gelegene Gavdos als Grauzonen ausgewiesen sind; das heisst deren griechischer Besitz wird angezweifelt. Dazu ist zu sagen, dass in den Verträgen von Lausanne und Paris die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei ganz exakt festgelegt wurde. Offenbar versucht die Türkei, bei allen diesen Fragen Probleme und Hürden zu etablieren, damit eine Regelung scheitert. Denn eine solche Regelung der Küstengewässer und der AWZ, wenn sie sich ans internationale Recht hält, würde mehr oder weniger zulasten der Türkei ausfallen. Also versucht die grosse Türkei die kleinen Nachbarn Griechenland und Zypern einzuschüchtern.
Beunruhigend ist die Tatsache, dass diese Entwicklungen international kaum Widerhall finden – obwohl sie äusserst gefährlich sind. Eine kriegerische Eskalation ist zwar wenig wahrscheinlich – die Türkei weiss, wie weit sie gehen kann und was grad noch toleriert wird, und Griechenland reagiert weniger ungeschickt als früher und liefert Ankara nicht mehr Vorwände für ein Eingreifen, aber wenn man erlaubt, dass sich ein militärisch starkes Land wie die Türkei über die verbrieften Rechte eines kleinen Landes wie Zypern hinwegsetzt, akzeptiert man das Recht des Stärkeren und das internationale Seerecht zerbröselt. Will das die internationale Gemeinschaft wirklich oder wird sie die Türkei in die Schranken weisen?
Die „EastMed“-Pipeline
Bereits zum Jahreswechsel wird aber ein weiteres konkretes Resultat der Zusammenarbeit von Zypern, Israel, Libanon und Ägypten zu feiern sein. Am 2. Januar begrüsst in Athen der griechische Ministerpräsident Mitsotakis den zypriotischen Präsidenten Anastasiadis sowie Ministerpräsident Netanjahu aus Israel. Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte wird später unterschreiben. Unter Dach und Fach gebracht wird der Vertrag über den Bau der Pipeline „EastMed“. Über diese Leitung soll Erdgas aus der Levante über das Meer über Zypern, Griechenland und die Adria nach Westeuropa gelangen. Dadurch verringert sich die Abhängigkeit Europas von russischen Lieferungen. Auch im Hinblick auf dieses Projekt hätten Griechenland und Zypern international mehr Unterstützung verdient.
Gefühl des Alleinseins
Die griechische Regierung täte gut daran, im neuen Jahr einen Versuch zu unternehmen, die Souveränitätsrechte bezüglich der Festlandsockel in der Ägäis sowie im östlichen Mittelmeerraum endlich zu klären. Dies könnte durch eine internationale Konferenz aller Anrainerstaaten geschehen und durch Schiedssprüche des Internationalen Gerichtshofes im Haag ergänzt werden. Und die Opposition täte gut daran, die Regierung gewähren zu lassen. Diese Perspektive, gleichsam Hoffnung wie Neujahrswunsch, wird aber wohl eine Illusion bleiben.
Griechenland steht zum Jahreswechsel unter enormem Druck – zur Abwechslung ist dieser nicht wirtschaftlicher Art. Der Flüchtlingsstrom schwillt wieder an und die Türkei schürt systematisch die Spannungen. Diese Faktoren sollten international ein Thema werden, machen aber keine Schlagzeilen. In Griechenland lösen diese Fragen zum Jahreswechsel ein Gefühl der Bedrohung und des Alleinseins aus. Nicht das erste Mal.