Seit Tagen ringen sie, verbreiten Erfolgsmeldungen, krebsen zurück, drehen sich im Kreis, streiten sich, verlangen mehr Zeit, überbieten sich mit Absurditäten, wollen dies und das – und das und dann doch nicht. Alles wirkt desorientiert, konfus, kopflos, unberechenbar.
Selten entblössen sich Wahlgewinner auf derart abstruse Art. Fast stündlich demonstrieren sie ihre Unerfahrenheit und zeigen, dass sie zu allem fähig sind, nur zu einem nicht: zum Regieren.
„Die Barbaren“
Die Mailänder Börse quittiert das Römer Chaos am Mittwoch zunächst mit einem Absturz von 3 Prozent und schloss dann bei minus 2,3 Prozent, während alle andern Börsen zulegten. Der Spread schnellt auf über 150 Punkte hoch. Der mächtige italienische Wirtschaftsverband Confindustria befürchtet, dass der zaghafte Wirtschaftsaufschwung zunichte gemacht wird.
Die Mailänder Zeitung Corriere della Sera titelt: „Wenn man mit dem Feuer spielt.“ Und die Financial Times schreibt in einem Leitartikel lapidar: „In Rom ziehen die modernen Barbaren ein.“
Ausstieg aus dem Euro?
Aufgeschreckt ist die Wirtschaft durch Meldungen, wonach die Populisten nun doch ernsthaft über einen Ausstieg aus dem Euro nachdenken. Eine ensprechende Forderung war laut Medienberichten ins neue Regierungsprogramm aufgenommen, doch nach heftigen Protesten der Wirtschaft am Abend fallengelassen worden.
Sowohl die rechtsextreme Lega als auch die populistischen Cinque Stelle haben immer wieder mit einem Austritt aus der Euro-Zone gedroht. Im Wahlkampf wurde diese Forderung allerdings leiser. Peppe Grillo, der Gründer der Cinque Stelle, hatte kürzlich wieder eine Volksabstimmung über die Abschaffung des Euro in Italien gefordert. Auch darauf will man jetzt vorerst verzichten, doch die Ausstiegsdrohung bleibt bestehen.
Verstoss gegen den EU-Stabilitätspakt
Doch nicht genug: Mit der EU ist eine heftige Konfrontation programmiert. Rom werde mit Brüssel neue Verträge aushandeln, fordern sowohl die Lega als auch die Cinque Stelle. Matteo Salvini, der Chef der Lega, sagt: „Unter den jetzigen Verträgen erstickt Italien.“
Das heisst, die Lega und die Cinque Stelle wollen ihre sogenannten Reformen mit noch mehr Schulden finanzieren. Trotz des zweitgrössten Schuldenbergs in der EU soll das Defizit erhöht werden. Das verstösst gegen die EU-Stabilitätsrichtlinien. Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella hat allerdings klargemacht, er werde keiner Regierung den Segen geben, die gegen den EU-Stabilitätspakt verstossen will.
„Das Establishment hat Angst“
Im Weiteren verlangen die beiden Parteien in ihrem Regierungsprogramm offenbar, dass die Europäische Zentralbank einen grossen Teil der italienischen 250-Milliarden-Schuld streicht.
Angesprochen auf den Kurssturz an der Mailänder Börse sagt ein Lega-Vertreter am Mittwoch: Die Wirtschaft versteht nichts von Wirtschaft.
Hohe EU-Diplomaten warnen Italien inzwischen eindringlich und fordern das Land auf, sich an den Stabilitätspakt zu halten. Luigi Di Maio, der Chef der Cinque Stelle, nennt die Brüsseler Kritiker „Eurokraten, die von niemandem gewählt wurden“. „Natürlich hat das Establishment Angst, Angst vor einem Kurswechsel“, sagt er. „Die europäischen Bande werden überprüft.“
Ausschaffung der Flüchtlinge
Aufsehen erregen auch Meldungen, wonach die neue Regierung viele Flüchtlinge, die über das Mittelmeer gekommen sind, deportieren will. „Wir haben zu viele Flüchtlinge aufgenommen und unterhalten“, erklärt Salvini. „Jetzt kommt der Moment, in dem unsere Sicherheit zählt und in dem die Migranten abgeschoben werden.“
Brüssel reagiert sofort und fordert Italien auf, seine Migrationspolitik nicht zu ändern. Salvini antwortet: „Von Europa kommt zum wiederholten Mal eine nicht akzeptierbare Einmischung.“ Es gibt Anzeichen dafür, dass Salvini Innenminister wird. „Dann werde ich die Deportation der Flüchtlinge leiten“, erklärt er.
Sanktionen gegen Russland annullieren
Des Weiteren will die neue Regierung Wladimir Putin entgegenkommen und die Sanktionen gegen Russland annullieren. Beide Parteien hatten schon lange einen guten Draht zum Kreml.
Beppe Grillo nimmt in seinem Blog immer wieder Artikel des russischen Propagandamediums „Sputnik“ auf.
Weniger Steuern
In der Wirtschaftspolitik streben beide Parteien eine tiefgreifende Umgestaltung des Steuersystems an. Bisher betrugen die Steuersätze in Italien 30 bis mehr als 40 Prozent. Die Lega versprach im Wahlkampf eine Flat Tax für alle von 15 Prozent. Dagegen wehren sich die Cinque Stelle und bezeichnen die Flat Tax als „Geschenk für die Reichen“. Der Kompromissvorschlag sieht eine zweistufige Flat Tax vor: 15 Prozent für die Meisten und 20 Prozent für die Gutverdienenden. Mit dem neuen System gehen dem Staat jährlich zwischen 40 und 60 Milliarden Euro verloren.
Geplant ist auch die Einführung eines „Bürgerlohns“ (Reddito di cittadinanza). Wer seine Arbeit verloren hat, soll zwei Jahre lang monatlich gut 780 Euro erhalten. Auch das wird den Staat pro Jahr Dutzende Milliarden kosten.
Senkung des Pensionsalters
Italien steht seit langem am Rande des Staatsbankrotts. Aus diesem Grund hat die Regierung Mario Monti (November 2011 bis April 2013) das Rentenalter auf 67 Jahre erhöht. Mit dieser sogenannten „Legge Fornero“ wurde der Bankrott vorläufig abgewendet.
Sowohl Di Maio als auch Salvini haben im Wahlkampf versprochen, das unpopuläre höhere Rentenalter wieder zu senken – ungeachtet der Konsequenzen für den Staatshaushalt. Jetzt geht in Pension, wer 41 Jahre lang gearbeitet hat - oder wer 64 Jahre alt ist. Wie die Ausfälle finanziell kompensiert werden sollen, ist noch nicht bekannt.
Wer soll das finanzieren?
Steuersenkungen, Unterstützung der Arbeitslosen, Senkung des Pensionsalters – all das klingt verlockend. Doch die grosse Frage bleibt: Wie soll das alles finanziert werden? Dazu steht wenig im Regierungsprogramm. Man hofft lediglich, dass die Steuererleichterungen den Konsum ankurbeln. Ferner will man – wieder einmal – Steuerflüchtlingen vermehrt an den Kragen und öffentliche Gebäude, Anlagen und Institutionen privatisieren.
Von Einsparungen ist bisher nicht die Rede. Ebenso wenig von den dringend notwendigen Strukturreformen. Natürlich wird wieder einmal verlangt, dass die Bürokratie und die Korruption bekämpft werden müssen. Wie dies jedoch geschehen soll, steht nicht im Regierungsprogramm.
Die Bekämpfung der in Italien lächerlichen Bürokratie steht seit 50 Jahren auf der To-do-Liste jeder Regierung. Und jede ist daran gescheitert.
Wer wird Regierungschef?
Ungeklärt ist nach wie vor, wer denn die neue Regierung anführen soll. Auch da jagen sich täglich neue Meldungen. Da sowohl Di Maio als auch Salvini sich berechtigt fühlen, das Land zu führen, kam am Mittwoch wieder die Idee auf, eine Stafettenregierung einszusetzen: Di Maio wäre zweieinhalb Jahre lang Ministerpräsident, dann käme für zweieinhalb Jahre Salvini. Am Mittwochabend scheint diese Idee erneut fallengelassen worden zu sein. Jetzt sucht man offenbar wieder eine Dritte Person, die – so Di Maio – eine „ausführende Kraft“ wäre. Das heisst wohl, eine Marionette, die die Befehle der beiden Streithähne befolgen soll.
Noch ist nichts definitiv. Auf dem Tisch liegt jetzt einzig ein 40 Seiten dickes provisorisches Regierungsprogramm. Manches könnte in dieser chaotischen Phase noch anders werden.
Doch auch wenn in den kommenden Tagen dann doch noch eine Regierung steht – es wäre eine Überraschung, wenn sie das Land voranbringen könnte.