Die Sonne steht hoch am Himmel, die Schwalben ziehen ihre Kreise, es ist heiss, die Berge ringsum sind gewaltig und ein paar Wanderer mit roten Socken und Rucksack werfen neugierig einen Blick in die Kirche von Ernen.
Durch die offene Tür dringt Barockmusik hinaus in den Sommernachmittag. Die Wanderer sehen ein kleines Ensemble vor dem Altar, meist jüngere Leute in Jeans und T-Shirt. Die einen proben fürs Konzert am Abend. Die anderen sitzen später im Publikum.
Lernen mit Donna Leon
„Musikdorf Ernen“ heisst das Ganze. „Es ist ein Zauberdorf am Ende der Welt“, sagt Pietro De Maria, ein italienischer Pianist, der schon seit neun Jahren dabei ist, wenn das winzige Walliser Dorf im Sommer zum Geheimtipp für Musik- und Literaturliebhaber wird. Denn in diesem Punkt unterscheidet sich Ernen von anderen Musik-Festivals: hier wird auch unter kundiger Führung gelesen und geschrieben. Niemand geringerer als Krimi-Autorin Donna Leon bringt einer mittlerweile fast verschworenen Gruppe von Frauen und bedeutend weniger Männern bei, wie man ein Buch wirklich gründlich und sorgfältig liest und wie sich das eigene Schreiben dadurch verbessert.
Eine Art Familientreffen ist das hier jeden Sommer und etliche Mitglieder kommen sogar aus dem Ausland angereist. „Es ist eine sehr homogene Familie“ sagt Donna Leon. „Es gibt keinen trunksüchtigen Cousin und keinen handgreiflichen Vater. Es ist eine Familie, deren gemeinsames Interesse das Lesen ist, die das Lesen lieben und es ernst nehmen.“
„Donna Leon war ein absoluter Glücksfall für Ernen“, sagt Francesco Walter, der Leiter des „Musikdorfs“, „und sie bleibt auch irgendwie das Aushängeschild“.
Hochfliegende Idee
Angefangen hatte alles 1974 mit dem ungarischen Pianisten György Sebök, der Ernen während eines Ferienaufenthaltes mit seiner Frau lieben gelernt hatte und hier ein europäisches Pianozentrum aufbauen wollte. „Eine hochfliegende Idee“, sagt Francesco Walter, „aber Sebök hatte damals gute Kontakte nach Frankreich und zu ein paar Prinzessinen. Das hat den Leuten hier in Ernen Eindruck gemacht“. Sebök führte in Ernen Meisterkurse durch und weitete sie durch ein kleines Festival aus. Das ist ganz gut gelaufen, und Francesco Walter, der eigentlich vom Kaufmännischen her kommt, setzte sich voller Begeisterung für Sponsoring und PR ein. Denn Geld war Mangelware in Ernen….
„Ich kaufte damals die ‚Bilanz‘ mit der Liste der hundert Reichsten und habe mal nachgesehen, wer sich für Kultur interessieren könnte. Dabei bin ich auf Hortense Anda Bührle gestossen. Ich habe sie angerufen, durfte sie besuchen und mein Anliegen vortragen. Wieviel brauchen sie denn, Herr Walter, fragte sie mich und ich sagte, naja, so zwischen 10‘000 und 20‘000 Franken… So kommen Sie nicht weiter, Herr Walter, meinte sie und versprach, mir Bescheid zu geben. Drei Tage später sagte sie mir 50‘000 Franken zu, ohne Gegenleistung…“ Francesco Walters Augen strahlen noch heute, wenn er die Geschichte erzählt.
Wie man einen Krimi schreibt
Nach dem Tod György Seböks 1999 stand das “Musikdorf“ aber wieder vor Problemen. Der Kreis um Sebök war plötzlich verschwunden, die Musiker haben zwar ein Programm aufgestellt, aber beste Kundin des Festivals war Seböks Witwe, die die Karten verschenkte. „Da wussten wir, so konnte es nicht weitergehen“, sagt Francesco Walter. Die zündende Idee hatte diesmal Ada Pesch, eine amerikanische Geigerin, die es während des Studiums nach Europa und auf ein paar Umwegen schliesslich auch nach Ernen verschlagen hatte. Hauptberuflich war sie inzwischen Konzertmeisterin am Zürcher Opernhaus geworden und hatte Kontakt zu Donna Leon, die oft und gern Händel-Opern in Zürich besuchte.
Warum, sagte sich Ada Pesch, fragen wir nicht Donna Leon, ob sie Einführungen zu unseren Barockkonzerten in Ernen machen möchte. „Gute Idee“, riefen alle. Nur Donna Leon nicht. So schnell gab man aber in Ernen nicht auf. „Ich hatte dann die Idee von einem Schreibwettbewerb“, sagt Francesco Walter. „Das funktioniert nicht“, winkte Donna Leon wieder ab. Man zerbrach sich weiter den Kopf, Donna Leon erzählte unterdessen wie sie zum Schreiben gekommen war und dass es gar nicht so schwierig sei, einen Krimi zu verfassen.
Plötzlich war klar: „Das ist es! Wir machen einen Kurs, wie man einen Krimi schreibt“, strahlte Francesco Walter. Donna Leon winkte wieder ab: no, no, no… aber dann hat sie die erste Schreibwerkstatt gemacht. “Das war der Durchbruch. Wir hatten jede Menge Medien hier oben. Donna Leon in Ernen!“ Seither verbringt Donna Leon regelmässig den Sommer in Ernen. „Das ist so selbstverständlich geworden, dass ich schon gar nicht mehr gefragt werde, ob ich im nächsten Jahr wieder komme…“ sagt sie. „In der dritten Juliwoche fühle ich mich jeweils unruhig wie ein Zugvogel und ich weiss, es ist wieder Zeit, nach Ernen aufzubrechen…“ So Donna Leon.
Eine Art Masterclass
Inzwischen hat sich das „Musikdorf Ernen“ zu einem richtigen Festival gemausert. Den Auftakt macht im Juli eine Reihe mit Kammermusik, es folgen Klavierkonzerte, dann die Barockkonzerte, zwischendurch Jazz und zum Abschluss nochmals Kammermusik.
Die Barockkonzerte finden im passenden Rahmen in der prächtigen Kirche St. Georg statt. Unter der Leitung von Ada Pesch hat sich ein kleines, hochkarätiges Barock-Orchester gebildet, das in unterschiedlicher Zusammensetzung hier auftritt. Das Programm wird gemeinsam gestaltet. „Es gibt noch so viel ungespielte Barockmusik“, sagt Ada Pesch, „immer wieder findet jemand von uns in einer Bibliothek völlig unbekannte Stücke, die wir dann spielen. Das Festival hat ja immer ein Thema, aber bei uns ist das schwierig zu machen“, sagt sie lachend, „Irgendwie findet man trotzdem immer einen Zusammenhang.“
Ernen hat für Ada Pesch auch noch eine spezielle Bedeutung. „Für mich ist es eine Art Masterclass. Ich profitiere sehr davon, hier mit Barockspezialisten zu spielen. Denn Ich bin eine Konzertmeisterin, die Barock spielt. Aber sie haben Barockmusik studiert.“
Da fragt man sich doch, ob eventuell auch Donna Leon von ihrem Seminar profitiert, indem sie ihre Leserschaft besser kennenlernt und folglich beim Schreiben besser weiss, was ankommt. „Darf ich da eine ganz fiese Antwort geben?“ so die Rückfrage von Donna Leon. Aber bitte doch…! Also: „Es kümmert mich überhaupt nicht, was die Leser denken. Ich glaube, es ist gefährlich, wenn ein Schriftsteller seinen Lesern gefallen will.“ Trotzdem lernt natürlich auch sie einiges im Workshop: „Ich lerne, wie unterschiedlich ein Buch auf verschiedene Leser wirkt. Ich lerne auch etwas über ihre Alters-Erfahrungen. Die Teilnehmer stellen andere Fragen als junge Studenten. Sie haben Lebenserfahrung, lesen und wissen mehr und stellen intelligentere Fragen.“
Gut für die Seele
Und sie macht ihnen gleich ein grosses Kompliment: „Wo findet man sonst eine Gruppe von fünfzig Erwachsenen, die ihre Ferien nicht in Mallorca, Kalabrien oder auf einem Kreuzfahrtschiff verbringen, sondern in ein winziges Dorf in der Schweiz reisen, sich jeden Morgen hinsetzen, Vorträgen zuhören und Texte schreiben. Das hätte ich am Anfang nie gedacht.“
Dieses winzige Dorf in der Schweiz hat aber durchaus seinen Reiz mit den jahrhundertealten, von der Sonne schwarz verfärbten Holzhäusern, den malerischen Bauerngärten, einem Dorfplatz, der tatsächlich noch Mittelpunkt ist und den weitläufigen Wanderwegen.
Für viele Künstler, die hier auftreten, ist es ein willkommener Abstecher. „Für meine Kinder ist Ernen im Sommer die zweite Heimat geworden“, sagt auch der Pianist Pietro De Maria, der in der Nähe von Florenz wohnt. Während die Kinder in den Wiesen umhertollen, bereitet er sich auf sein Konzert vor. Bach muss es diesmal sein. „Bach öffnet Ohren, Herz und Verstand und ist gut für die Seele.“ Das haben wohl auch die rund 400 Personen so empfunden, die am Abend in der Kirche Pietro De Maria mit den „Goldbergvariationen“ gehört haben.
Dass dies alles möglich ist, verdankt Ernen vor allem Francesco Walter. Er scheint immer überall zu sein und es gibt kaum ein Problem, das er nicht lösen würde. Ob es nun ein Koffer ist, den er einem Musiker hinterherträgt oder ein Reissverschluss der klemmt. „Er ist einfach grossartig“, bestätigt Donna Leon, die nun schon seit etlichen Jahren mit ihm zu tun hat. Und er selbst nennt es schlicht „Passion“, was ihn antreibt.
Da capo
Der Erfolg gibt ihm recht. Sein Festival hat eine ausgeglichene Bilanz, konnte die Einnahmen aus dem Billettverkauf steigern und bekam in diesem Jahr in Zug den Doron-Preis. Neben der Ehre hat das auch Geld gebracht, das im „Musikdorf Ernen“ immer willkommen ist.
Zurzeit läuft also alles rund und das Festival dauert noch bis Mitte August. Francesco Walter hat alle Hände voll zu tun. „Schlimm wird es aber Ende August“, sagt er jetzt schon. „Wenn alle gegangen sind, dann kommt die grosse Leere und man fällt fast ins Loch…“ Diesmal kann er sich dann sagen: „da capo“, also „noch einmal“, denn so lautet das Motto fürs nächste Festival und das schwirrt schon jetzt in seinem Kopf umher. „Ich möchte mal was ganz Verrücktes machen“, sprudelt es schon wieder aus ihm heraus. „Für Kontrabass wird nie etwas geschrieben, deshalb habe ich einen Kompositionsauftrag vergeben, das ist für den Komponisten eine echte Herausforderung…“ und und und… Francesco Walter wird wohl Ende August nichts ins Loch fallen….