Der emeritierte Genfer Soziologieprofessor, fleissiger Buchautor und beratendes Mitglied des Uno-Menschenrechtsrates, ist in diesen Tagen der atemraubenden Umbrüche in der arabischen Welt ein gefragter Interview-Partner. Man will von ihm insbesondere wissen, was er vom Volksaufstand in Libyen und vom wankenden Diktator Ghadhafi hält. Denn Ziegler hat über viele Jahre hinweg engere Beziehungen zu Ghadhafi unterhalten.
"Das ist Blödsinn"
Wer indessen meint, diese persönliche Nähe zu Tyrannen wie Fidel Castro oder Ghadhafi – „Le Monde hatte ihn schon früher einmal als „Anbeter“ Castros und „Pantoffellecker Ghadhafis“ angeprangert – sei ihm heute irgendwie peinlich, hat sich getäuscht. Libyen sei die fürchterlichste Diktatur, erklärte er am Wochenende politisch korrekt in einem Gespräch mit dem „Tages-Anzeiger“. Und ein paar Sätze später: „Ich muss jetzt einmal etwas klarstellen. Ich werde immer wieder als Ghadhafis Freund bezeichnet. Das ist Blödsinn.“
Immerhin berichtet er weiter, dass er Ghadhafi in Libyen fünf- oder sechsmal besucht hat und mit ihm dann über Weltpolitik diskutierte, wobei fast ausschliesslich der Diktator geredet habe. Das sei jeweils „wie bei Fidel“ gewesen. Er sei „als Soziologe“ an den Gesprächen mit Ghadhafi interessiert gewesen, behauptet Ziegler. Es gebe keine faszinierenderen Informationsquelle als einen amtierenden Staatschef mit geopolitischen Ambitionen – auch wenn dieser ein Halunke sei.
Trommler für den Ghadhafi-Preis für Menschenrechte
Doch die Verbindungen des heute 76-jährigen Tausendsassa mit dem Ghadhafi-Regime beschränkten sich nicht allein auf gelegentliche politische Kolloquien unter vier Augen im Büro des Despoten. Ziegler war lange Zeit eng beteiligt am „Muammar-Ghadhafi-Preis für Menschenrechte“, einem 1989 lancierten Propaganda-Unternehmen des Regimes, für das Ghadhafi 10 Millionen Dollar gestiftet hatte. Laut einer Recherche der „NZZ am Sonntag“ (2006) lobte er im britischen „Independent“ diesen Preis als „Anti-Nobelpreis der Dritten Welt“. Das sei nötig, weil die Nobelpreis-Komitees in Schweden und Norwegen die Dritte Welt mit ihren Entscheidungen ständig beleidigten.
Organisiert wurde dieser Preis übrigens jahrelang von einer NGO namens Nord-Süd XXI, mit der Ziegler via eine Stiftung gleichen Namens verbandelt ist. Den Preis (250 000 Dollar) haben neben honorigen Persönlichkeiten wie Nelson Mandela auch so dubiose „Menschenrechtskämpfer“ wie der amerikanische Islamist Louis Farrakhan, der Holocaust-Leuger Roger Garaudy, oder der nicaraguanische Machthaber Daniel Ortega bekommen. Letzterer hat sich selbst während des laufenden Volksaufstandes in Libyen weiterhin als treuer Gesinnungsgenosse Ghadhafis geoutet.
Von solchen Zusammenhängen spricht Jean Ziegler begreiflicherweise heute nicht, wenn man ihn über seine vertraulichen Sitzungen mit Ghadhafi und seine sonstigen Kontakte mit dem Regime interviewt – warum sollte er auch? Die Interviewer hätten ja etwas tiefer bohren können.
Neue Sicht auf Reagans Vergeltungsschlag?
Interessant wäre übrigens auch die Frage an Jean Ziegler, was er heute über die Bombenangriffe gegen Ghadhafis Hauptquartier in Tripolis denkt, die der damalige US-Präsident Reagan 1986 angeordnet hatte – als Vergeltung für den tödlichen Bombenanschlag libyscher Agenten gegen den Nachtclub „La Belle“ in Westberlin, bei dem drei Personen getötet und über 200 verwundet worden waren. Ghadhafi entging dem Tod nur ganz knapp. Die meisten Politiker und Beobachter in Europa verurteilten damals diese Vergeltung nach „Wildwest-Manier“. 25 Jahre später eine rechthaberische Kontroverse über diesen Vorgang zu führen, macht zwar wenig Sinn. Doch darüber nachzudenken, wie es heute um Libyen stände, wenn Ghadhafi damals von den amerikanischen Bomben getroffen worden wäre, könnte zu differenzierten Urteilen führen.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit wäre es nicht zu dem Terroranschlag gegen ein US-Flugzeug über Lockerbie im Dezember 1988 gekommen. 270 Menschen wurden durch den Absturz getötet. Libyen hat später aufgrund hartnäckigen westlichen Druckes 2.46 Milliarden Dollar für die Hinterbliebenen der Opfer ausbezahlt – ohne die Tat im rechtlichen Sinne anzuerkennen. Jean Ziegler aber hat nach dem Lockerbie-Anschlag offenbar mit bestem Gewissen für die verlogene Propaganda des Ghadhafi-Menschenrechtspreises getrommelt.
Doppelsinnige Überschrift
Der Interviewer im erwähnten Gespräch des „Tages-Anzeigers“ (26. 2. 2011) hat diese hintergründigeren Fragen zwar nicht angeschnitten. Doch das Interview ist doppelsinnig mit einem Zitat Zieglers überschrieben: „Wir waren Komplizen“. Der rührige Genfer Schwarz-Weiss-Maler meint das im Text als pauschale Anklage gegen Europa und den Westen überhaupt. Doch da er gelegentlich ja auch Sinn für subtilere Anspielungen zeigt, kann man hoffen, dass ihm beim Lesen der Zeitung die Ironie dieser Überschrift in Bezug auf sein Verhältnis zu Ghadhafi nicht ganz entgangen ist.