„Geh‘n wir in die Küche…?“ Das ist keine Frage, das ist eine Ansage, und James Gaffigan kommt tatsächlich mit einem Einkaufswagen voller Lebensmittel vom Markt zurück. Es ist Samstagmittag, am Nachmittag will er für den Abend kochen.
Allerdings nicht in dieser Küche, in der wir jetzt sitzen. Sie gehört zu einer grossen, schönen alten Wohnung im vierten Stock eines Hauses an der Pilatusstrasse in Luzern, dem Sitz des Luzerner Sinfonieorchesters. In dieser Küche mit dem grossen, runden Tisch wird sicher öfter mal Kaffee gekocht, ansonsten werden hier wohl eher musikalische Leckerbissen ausgedacht und vorbereitet.
James Gaffigan, 36, setzt gerade zu seiner fünften Saison als Chefdirigent des Luzerner Sinfonieorchesters LSO an. Wagner hat er sich dafür ausgesucht. Wagner, der sozusagen vor der Haustür in Luzern ein paar seiner schönsten Werke komponiert hat. „Das Siegfried-Idyll zum Beispiel, das er hier in seinem Haus in Tribschen uraufgeführt hat, ist so schön und so berührend, dass es gar keine Worte dazu braucht“, schwärmt Gaffigan. Es ist auch kein Zufall, dass Gaffigan den Verzicht auf Text in diesem Wagner-Stück betont. Denn zur Saisoneröffnung steht beim Luzerner Sinfonieorchester „Der Ring ohne Worte“ auf dem Programm.
Wagner für Anfänger
Was bedeutet Wagner denn überhaupt für den mit seinen 36 Jahren immer noch jungen Dirigenten, der in New York aufgewachsen ist und drei Jahre lang Assistent von Franz Welser-Möst in Cleveland war? „Ich würde sagen, wir sprechen hier über einen der bedeutendsten Komponisten überhaupt. Er gehört sicher zu den Top Fünf, egal, ob man ihn mag oder nicht“, sagt Gaffigan. Als Wagner-Einstieg für das Orchester und das Publikum hat er Lorin Maazels Arrangement des „Ring ohne Worte“ gewählt, der einen Bogen schlägt von „Rheingold“ über „Siegfried“ und die „Walküre“ bis hin zur „Götterdämmerung“.
Aber, Wagner ohne Worte, ist das noch Wagner? Schliesslich war Wagner doch auch so stolz auf seine Texte, auf dieses “Gesamtkunstwerk“ das er geschaffen hatte, ohne einen Librettisten zur Seite zu haben. „Naja, das ist eine heikle Frage“, räumt Gaffigan ein. Es sei sicher nicht Wagner, so, wie es sein müsste. „Werbemässig ist das wahrscheinlich gar nicht gut, was ich jetzt sage: Aber Wagner wäre vermutlich sehr verärgert, wenn er wüsste, was da mit ihm gemacht wird. Trotzdem denke ich, das Publikum sollte diese Orchestrierung einmal erleben ohne jegliche Ablenkung durch eine Inszenierung oder visuelle Effekte und auch ganz ohne Worte. Echte Wagnerianer sehen das vermutlich anders. Aber viele könnten es auch äusserst reizvoll finden, die Musik ‚pur‘ zu hören. Das fasziniert mich so an diesem ‚Ring ohne Worte‘“, so Gaffigan.
Wagner-Verständnis über Umwege
Dadurch, dass Gaffigan nur wenig Deutsch spricht, hat er gewissermassen einen Vorteil bei den Wagner-Texten. Er versteht sie nicht im Original. Die englische Übersetzung der Wagner-Texte ist mitunter aber auch jenen hilfreich, die des Deutschen durchaus mächtig sind, wenn es darum geht, Wagners Deutsch zu verstehen. Theo Stemmler, Professor an der Forschungsstelle für europäische Lyrik an der Universität Mannheim, hat sich mit Wagners Sprache auseinandergesetzt und kennt Beispiele, die erst auf dem Umweg über die englische Übersetzung auch auf Deutsch verständlich werden. So etwa, wenn Wotan singt „Halte Stich“. Auf Englisch heisst das „Keep your word“, und auf – verständlichem – Deutsch schliesslich „Halte dein Wort“. Oder: „Gemahnt es dich so matt“ (Wagner Original), wird auf Englisch „Is your memory so weak?“ und auf Deutsch „Ist dein Gedächtnis so schlecht?“ Als „bombastisches Alliterationsgestotter“ hat der Musikkritiker Eduard Hanslick Wagners Texte schon zu dessen Lebzeichen bezeichnet. Und der Schriftsteller und Philosoph Ernst Bloch bemängelte, dass Wagners Texte „bei keiner Aufführung verstehbar“ seien. Thomas Mann schliesslich beurteilte Wagners Texte als „wunderlich genug“ und „als sprachliche Gebilde nicht haltbar“. Wagner selbst stand über solcher Kritik: „Es ist mir gleichgültig, ob man die Verse versteht, meine Handlung wird man schon begreifen“. Na also… Wagners Gedanken, so Gaffigan, kämen auch ohne Text in der Musik ganz klar zum Ausdruck. Oder vielleicht könnte man auch sagen: trotz des Textes…?
„Wagner war ein Meister darin, die Gefühle, die Ohren und Herzen des Publikums zu manipulieren“, sagt Gaffigan voller Bewunderung. „Bevor es das Kino gab, hat er sozusagen schon ‚Filmmusik‘ gemacht, natürlich auf einem viel höheren Niveau. Das fasziniert mich. Und ich finde auch, jedes Orchester muss diese Erfahrungen mit Wagner machen. Selbst Kammerorchester.“ Ist Wagner denn für ihn so eine Art Wegbereiter der modernen Musik? „Das ist schwer zu sagen. Ich wüsste wirklich nicht, wie ich ‚moderne Musik‘, definieren sollte. Aber dieser sound aus Hollywood und vom Broadway.. das ist doch sozusagen alles Wagner! Er hat‘s erfunden! Wenn ein Orchester die Gelegenheit bekommt, Wagner zu spielen, dann bedeutet das für die Musiker Fitnesstraining und Wellness zugleich.“
Musik, die zutiefst berührt
Sein persönliches Wagner-Lieblingsstück ist „Tristan“, verrät James Gaffigan und er kommt regelrecht ins Schwelgen. „Hier bearbeitet Wagner ein Thema, das mich sehr fasziniert: was ist real, was ist nicht real und wie können uns Gefühle an einen Ort bringen, der nicht real ist, nämlich ins Paradies! Ich bin ganz hingerissen von der harmonischen Struktur. Ich kann fast nicht zuhören… das letzte Mal, als ich ‚Tristan‘ live hörte, dachte ich im zweiten Akt, jetzt bekomme ich einen Herzschlag…diese Musik berührt mich zutiefst. Dieses Mal spiele ich sie noch nicht, aber irgendwann einmal in Zukunft.“
So wird James Gaffigan also erst einmal mit einem Querschnitt durch den „Ring“ beginnen, der es allerdings musikalisch auch schon in sich hat. „Gleich zu Beginn kommt das berühmte ‚Rheingold‘-Vorspiel. Das beginnt mit ganz tiefen, leisen Horn-Klängen, die dann in Es Dur übergehen. Lange Zeit geht das in Es Dur weiter, dann beschleunigt Wagner sozusagen minimalistisch. Das klingt fast schon wie bei John Adams, Steve Reich oder Philip Glass. Man merkt überhaupt nicht, welche Instrumente hinzukommen. Man steigt vom Grund des Wassers an die Oberfläche auf. Man spürt die verschiedenen Strömungen, die Tiere, die im Wasser umher schwimmen und natürlich die Rheintöchter. Dann dieser grandiose Walkürenritt… und Walhalla in Flammen..! Unglaubliche Musik!“
Eine Reise durch die Wagner-Welt in siebzig Minuten. Eine Abenteuerreise für alle Beteiligten. Für die auf der Bühne ebenso wie für jene im Zuschauerraum. Reiseleiter James Gaffigan hat vor allem ein Ziel: „Das wichtigste für mich ist es, dem Publikum Wagner pur und unverfälscht näher zu bringen.“
Dann kommt er von den Wagner’schen Höhenflügen wieder zurück auf den Boden der Realität, fasst sein Einkaufswägelchen, schiebt es auf die Strasse, winkt noch mal und verschwindet im Samstagnachmittagsbetrieb.
Der "Ring ohne Worte"
14. und 15. Oktober 2015
19.30 Uhr
KKL Luzern www.sinfonieorchester.ch