Können bei grossen Naturkatastrophen oder beim Ausbruch von Seuchen beratende Experten wegen Fehlprognosen im Gefängnis landen? Diese brisante Frage stellten sich Fachleute an der Jahrestagung der Akademie der Naturwissenschaften in Bern.
Die Empörung bei vielen Wissenschaftlern war im Oktober letzten Jahres weltweit gross, als sechs Erdbebenspezialisten nach dem Beben von L’Aquila (Italien, 6. April 2009, 300 Tote) zu längeren Gefängnisstrafen verurteilt wurden. „Nach dieser Logik könnte man tagtäglich Meteorologen verurteilen, wenn sie Sonnenschein, Hagel oder Schnee nicht richtig voraussagen“, ereiferte sich damals ein Wissenschaftsjournalist auf „Zeit Online“.
Falschaussagen wider besseres Wissen…
Nach der Lektüre der Urteilsbegründung klang es dann allerdings rasch anders. Selbst Prof. Rainer Kind vom Geoforschungszentrum Potsdam revidierte mittlerweile in aller Öffentlichkeit seine Worte aus Verärgerung: Die Experten aus Italien hatten ihre Entwarnung primär aus politischen und nicht aus wissenschaftlichen Gründen gemacht. Einer der Forscher verstieg sich gar zur Aussage, die vorangegangenen Schwarmbeben in den Abruzzen seien gut, da diese Entspannung in den Gesteinsschichten brächten und grössere Beben gar verhinderten… „Wissenschaftlich ein absoluter Blödsinn“, kommentiert Prof. Max Wyss, Direktor der World Agency for Planetary Monitoring and Earthquake Risk Reduction an der Universität Genf. Der damalige Rat der italienischen Seismologen an die Bevölkerung, ruhig nach Hause zu gehen und lieber eine Flasche Lambrusco zu trinken, basierte auf einer abgesprochenen bewussten Falschaussage wider besseres Wissen. Das Gericht hat also nicht über die Unvorhersehbarkeit des Ereignisses geurteilt, sondern die bewusste Irreführung der Bevölkerung verurteilt.
Wann sind Experten haftbar?
Nichtsdestotrotz bleibt für die Fachwelt die Frage: Wann macht sich ein Experte, eine Expertin haftbar, wenn es um die Einschätzung des Gefährdungspotentials bei Naturereignissen wie Lawinenniedergängen, Seuchen à la BSE oder Prävention mittels Impfkampagnen handelt?
Dazu machte an der erwähnten Fachtagung Prof. Christine Chappuis, Dekanin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Genf, einige grundsätzliche Unterscheidungen: Juristisch ist es einen wichtiger Unterschied, ob ein Experte in sog. Garantenstellung vom Staat (bzw. von der öffentlichen Hand) angestellt ist oder selbständig, also privatrechtlich, agiert. Im Wesentlichen geht es darum, wer die Verantwortung trägt und wie die Haftung geregelt ist. Im ersteren Fall haftet in der Regel der Staat, im zweiten die Privatperson selber. Allerdings muss in beiden Fällen eine widerrechtliche oder eine fahrlässige Handlung vorliegen.
Lawinenunglück Evolène
Im Fall des Lawinenunglücks von Evolène (Februar 1999, 12 Todesopfer) hatte das Gericht erschwerend geltend gemacht, dass sich der zwar erfahrene Sicherheitsverantwortliche, der weder ein Haus evakuieren noch die Strasse sperren liess, sich mehr aufs Gespür und seine Erfahrung und weniger auf Fakten (Gefahrenkarte, Lawinenbulletin etc.) verlassen hatte.
Das Gericht verurteilte ihn zu zwei Jahren Gefängnis bedingt. Christine Chappuis liess allerdings durchblicken, dass sie gegen dieses Urteil Vorbehalte hat: Zwölf Todesopfer im selben Dorf lassen verständlicherweise viele Emotionen aufkommen. Das Bedürfnis, einen Sündenbock zu finden, sei daher gross: „Sind die Experten von heute die ‚Hexen’ von damals?“ kommentierte sie fragend.
Risikobewertung von Risikomanagement trennen
Prof. Ulrich Kihm hat, als früherer Direktor des Bundesamts für Veterinärwesen, vergleichbare Erfahrungen rund um die Bedrohung durch Rinderwahnsinn (BSE) gemacht.
Er unterscheidet beim Umgang mit derartigen Krisen in Risikobewertung, Risikomanagement und Risikokommunikation. Um Interessen bei Einschätzungen und Lösungen nicht zu vermischen, fordert er völlige Unabhängigkeit zwischen den Fachleuten der Risikobewertung (wissenschaftliche Erkenntnisse), den Verantwortungsträgern im Risikomanagement (Fragen der Politik, der Finanzen etc.) und den Spezialisten der Risikokommunikation. Es sei allerdings eine schwierige Aufgabe, all diese Ansprüche und Abläufe – vor allem wenn das Thema wie bei BSE internationale Dimensionen hat – zu koordinieren.
Nicht mehr versprechen, als man weiss
Hanna Wick, Wissenschaftsjournalistin bei Radio SRF, ist sich bewusst, welche Gratwanderungen Medienschaffende in solch heiklen Situationen machen müssen: Vor allem wenn sich Experten widersprechen, wird es für Medien schwierig, eine gültige Gewichtung vorzunehmen. Wissenschaftsjournalismus müsse einerseits zeigen, dass es offensichtlich mehrere Meinungen zum Thema gibt, sollte aber im Ernstfall gleichzeitig vermeiden, dass allgemeine Verwirrung und Verunsicherung zunehmen. Sie fordert deshalb, dass Wissenschafter und weitere Verantwortliche zurückhaltende aber klare Aussagen machen und dabei jederzeit signalisieren, dass sie weder die absolute Gewissheit haben noch Garantien übernehmen.
Ähnlich formuliert es auch Stefan Wiemer, Direktor a.i. des Schweizerischen Erdbebendienst an der ETH, in einem Interview: „Wir wissen, dass Erdbeben nach dem aktuellen Wissensstand nicht genau voraussagbar sind. Das müssen nicht nur wir Seismologen akzeptieren, sondern auch Politiker und die Öffentlichkeit. Wir können informieren und auf Fakten hinweisen, aber wir können nicht Erdbeben voraussagen, nur weil es plötzlich verlangt wird“.
Klar warnen, aber Selbstverantwortung fördern
Erdbebenforscher können zwar Wegweiser sein, müssen aber gleichzeitig an die Selbstverantwortung jedes Einzelnen appellieren. Als Beispiel zeigte Hanna Wick anhand eines Videoausschnitts, wie Chris Christie, der Gouverneur von New Jersey, am Fernsehen die Bevölkerung vor dem Hurrikan „Sandy“ warnte: Sich jetzt nicht in Sicherheit zu bringen oder evakuieren zu lassen, sei schlicht und einfach „stupid“. Im Klartext: Es ist schlauer, jetzt zu seinen Freunden zu fahren, als dass die Freunde dann zur Beerdigung herkommen müssen...