Jonas Lüscher, ein junger Schweizer Autor, hat sich in einem Tagesanzeiger-Beitrag zum 1. August über „unanständige Mehrheiten“ in der helvetischen Demokratie geäussert. Unanständig sind seiner Ansicht nach jene Mehrheiten, die die Abstimmungen über eine verschärfte Asylgesetzgebung oder die Minarett-Initative gewonnen haben. Unanständig war nach diesem Raster auch jene Majorität von Männern, die 1959 (also vor 54 Jahren) das Frauenstimmrecht verwarf. Was stört an Lüschers Argumentation, ist sein fehlendes Sensorium für historisches Denken, sein hochmütiges Beiseiteschieben von Gefühlen und Ängsten, die ihm fremd sind – und seine selbstgerechte Gewissheit, dass Moral und Anstand bei diesen Abstimmungen einzig und allein auf Seite der unterlegenen Minorität vertreten sei. Natürlich ist es legitim, die Annahme der Minarett-Initiative als falsch zu kritisieren. Aber falsch ist nicht das Gleiche wie unanständig. Wer mit letzterer Qualifikation um sich wirft, vergiftet den demokratischen Prozess. Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger hatte 1937 Moskau auf dem Höhepunkt des Stalinschen Terrors besucht und darauf einen lobenden Bericht über das dortige Regime geschrieben. Seinen Kritikern hielt er hochgemut entgegen, er sehe die Weltgeschichte als einen „fortdauernden Kampf, den eine vernünftige Minorität gegen die Majorität der Dummen führt“ - und er, Feuchtwanger , stehe eben auf der Seite der Vernunft. Dem Sturm-und-Drang-Autor Jonas Lüscher sollte das zu denken geben. (Reinhard Meier)