In unseren Breitengraden ist Meinungsfreiheit eine Selbstverständlichkeit. Sie stösst gelegentlich, auch im weiten Feld der Kunst, an ihre Grenzen – und Grenzen werden gerne ausgereizt. Es tauchen in solchen Zusammenhängen sofort die selbsternannten Siegelbewahrer der Meinungsfreiheit auf: Sie instrumentalisieren den Begriff, verwandeln ihn in eine Keule, mit der sie, pathetisch, jegliche Argumentation totzuschlagen pflegen. Man erlebte sie kürzlich wieder, als sie sich für den Abdruck der grauenhaft schlechten Mohammed-Karikaturen im französischen Satire-Heft „Charlie Hébdo“ stark machten. In Tabuzonen vorzudringen, Bewusstsein zu erweitern, Meinungen zu befreien, das gehört zu den mutigen Aufgaben der Kunst. Und wenn es so grossartig gemacht wird, wie von Art Spiegelman, der den Holocaust zum Comic-Thema nahm und unter Tieren ablaufen liess oder von seinem Kollegen R.Crumb, der das erste Buch der Bibel in Comicstreifen zerlegte, dann ist es nur logisch, dass nach dem ersten Schock aus dem Tabubruch (Holocaust, Bibel können niemals zu Comic-Vorlagen werden) allgemein bejubelte Welterfolge werden. Es kommt eben beim Ausreizen der Meinungsfreiheit, beim Tabubrechen entgegen der Überzeugung von Gesinnungsaposteln, die Qualitätserwägungen nicht zulassen, durchaus auf das „Wie“ an. Es gehört zum Kerngeschäft eines Redaktors, angebotene Beiträge auf Qualität zu prüfen, bevor er sie in Druck gibt. Bei „Charlie Hébdo“ muss der Verantwortliche verbundene Augen gehabt haben, als ihm die Mohammed-Karikaturen vorgelegt wurden. (Christoph Kuhn)