Die Sommerferien stehen vor der Tür. Wohin fahren Sie, bleiben Sie zu Hause, was lesen Sie? Journal21-Autorinnen und -Autoren empfehlen Ihnen Bücher für den Strandkorb, den Balkon oder die Hängematte.
KLARA OBERMÜLLER EMPFIELT
Lena Gorelik: Wer wir sind
Sie kam als Kind jüdischer Kontingentflüchtlinge aus St. Petersburg nach Deutschland. Da war sie elf Jahre alt und fremd. Davon handelt dieses beeindruckende Buch: von Fremdsein und Zugehörigkeit, von der Zerrissenheit zwischen den Kulturen und der Frage, wo denn nun der eigene Platz sei auf dieser Welt. Lena Gorelik ist heute eine anerkannte und erfolgreiche Autorin deutscher Sprache, aber wenn sie ganz bei sich und ihren persönlichsten Erinnerungen ist, dann wechselt sie ins Russische – auch in diesem Buch. Es ist der Versuch, das Eigene im Fremden zu bewahren und die Spannung auszuhalten, die noch immer besteht zwischen der Familie, aus der sie stammt, und der Gesellschaft, in der sie lebt. Diskret, aber doch deutlich gibt Lena Gorelik zu verstehen, dass es auch Zeiten gab, da sie sich ihrer Eltern schämte und ihre Herkunft zu verleugnen versuchte. Ihre Texte sind dort am berührendsten, wo sie Abbitte leistet und sich erinnert, «wo die Liebe liegt», wie es einmal heisst, «so still, dass sie nicht zu hören ist, unter den Sprachen vergraben».
Rowohlt, Berlin 2021, 317 Seiten
Edmund de Waal: Camondo. Eine Familiengeschichte in Briefen
Auf die Geschichte von Moïse de Camondo und seiner Familie war der britische Autor und Keramiker Edmund de Waal bei den Recherchen zu seiner eigenen Familie gestossen, der er in seinem Buch «Der Hase mit den Bernsteinaugen» ein so eindrückliches Denkmal gesetzt hatte. Später, während des Lockdowns, fing er an, dem längst verstorbenen Verwandten im Geiste Briefe zu schreiben: Briefe, in denen er eine Welt noch einmal aufleben lässt, wie wir sie aus den Gemälden der französischen Impressionisten, aber auch aus den Werken Marcel Prousts kennen. Es ist eine Welt zerbrechlicher Schönheit. Moïse de Camondo, reicher Bankier aus Konstantinopel und leidenschaftlicher Sammler kostbaren Hausrats, hat sie in seinem Pariser Palais am Parc Monceau eingefangen und verfügt, dass nach seinem Tod nichts verändert werden darf. Dort, im Musée Nissim de Camondo, benannt nach dem im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn der Familie, ist ihr Edmund de Waal wiederbegegnet und hat noch einmal eine «Recherche du temps perdu» in Gang gesetzt, wie man sie sich einfühlsamer und kenntnisreicher nicht wünschen kann.
Zsolnay, Wien 2022, 189 Seiten
Doris Knecht: Die Nachricht
Witwen haben es in unserer Gesellschaft nach wie vor schwer, vor allem dann, wenn sie sich nicht in ihrer Trauer zu vergraben gedenken, sondern ihr Leben weiterleben wollen, weil es schliesslich ihr Leben ist und nicht das des geliebten Gatten. So eine ist Ruth, die Protagonistin von Doris Knechts neuestem Roman: eine erfolgreiche Drehbuchautorin und Fernsehmoderatorin, die gerade dabei ist, sich in ihrer neuen Komfortzone einzurichten, als es geschieht. «Es» ist eine anonyme Messenger-Nachricht, deren Absender mehr über Ruths Leben zu wissen scheint, als irgendeinem Aussenstehenden möglich ist. Unzählige, immer perfidere, immer intimere Posts werden ihr folgen und nicht nur Ruth selbst, sondern ihr gesamtes Umfeld in Mitleidenschaft ziehen. Virtuos versteht es Doris Knecht, die kriminalistische Spannung aufzubauen und gleichzeitig mit scharfem Blick und leichter Hand all die Gehässigkeiten zu schildern, denen eigenständige Frauen nach wie vor ausgesetzt sind. Auch wenn die Auflösung des Plots nicht ganz so befriedigend ist wie die vorangegangene Inszenierung, bietet der Roman kluge Unterhaltung auf hohem Niveau – und Einblicke in ein digitales Horrorszenario, das sich auch andernorts jederzeit wiederholen könnte.
Hanser, Berlin 2021, 253 Seiten
URS MEIER EMPFIEHLT
Max Frisch: Stiller
Max Frisch: Stiller
«Ich bin nicht Stiller.» So der berühmte Eingangssatz. Das Thema der Identität ist Kern des Romans. Stiller will nicht sein, was er angeblich ist: Künstler, Schweizer, Ehemann. Das Buch erschien 1953 und ist stilistisch noch nah beim Albin-Zollinger-Sound und dem Kurt-Guggenheim-Idiom. Doch die Haltung des Autors ist sarkastisch, der Plot experimentell, die Sprache kantig. Frisch reibt sich heftig an der Schweiz der Fünfzigerjahre, und er tut dies in einer Weise, die sich siebzig Jahre danach durchaus nicht erledigt hat. – Ein Buch zum Wiederlesen, beziehungsweise eines, das endlich kennenzulernen sich unbedingt lohnt.
Suhrkamp, Berlin 1973, Taschenbuch, 448 Seiten
Christiane Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern
Der Untertitel «Zu Fuss auf dem Fluchtweg meines Vaters» bezeichnet das biographische Projekt, das sich in dem Buch niederschlägt: Die Autorin folgt der Spur ihrer vom Krieg und der Vertreibung aus Schlesien geprägten Familiengeschichte. «Zu Fuss? Zu Fuss. Allein? Allein.» Zu diesem Dialog kommt es mehrfach auf dem 550 Kilometer langen Weg. Der Journalistin Hoffmann ist ein Buch von grosser literarischer Kraft gelungen. Es zeigt die chaotische Situation der Ostfront am Ende des Zweiten Weltkriegs und bringt Licht in eine traumatische Familiengeschichte. Das nicht Erinnerte vergeht nicht, es rumort im Untergrund der Gegenwart.
C. H. Beck, München 2022, 279 Seiten
Esther Kinsky: Rombo
1976 verwüsten zwei schwere Erdbeben das Friaul. Mehrere abgelegene Dörfer sind zerstört, tausend Menschen kommen um, zehntausende verlieren alles. Nach den Erdstössen ist die gebirgige Landschaft gewaltsam verändert. Jahrzehnte später erkundet Esther Kinsky, die sensible Beobachterin des Lebens in Randzonen, die Erinnerungen Betroffener. Sieben Personen kommen abwechselnd mit Sachbeschreibungen zu Wort. Es entsteht ein Mosaik von Informationen, Impressionen und Erlebnisberichten, das vom einfachen Leben zwischen elementarer Unsicherheit und Beheimatung ein facettenreiches Bild entwirft.
Suhrkamp, Berlin 2022, 267 Seiten
ALEX BÄNNINGER EMPFIEHLT
Heike Geissler: Die Woche
Wenn schon über das eigene Elend im tristen Alltag klagen, schimpfen und nörgeln, dann richtig. Nicht dumpf im Kreis herum, sondern virtuos die literarische Leiter hoch und dann raffiniert mit einem Kopfsprung in die Tiefe, wo sich die sprachlichen Perlen finden. Die Ich-Erzählerin Heike Geissler und ihre Freundin Constanze, die beiden „proletarischen Prinzessinnen“, rechnen scharfsinnig, selbstironisch und sarkastisch ab mit der beschädigten Debattenkultur, der gesellschaftlichen Polarisierung und Emotionalisierung und dem verzweifelten Schwanken zwischen Auflehnung und Resignation. Ein politisches Manifest, das die politischen Manifeste durch den Kakao und vor allem den Prosecco zieht.
Suhrkamp, Berlin 2022, 312 Seiten
Julian Barnes: Der Mann im roten Rock
Wer nur Romane liest oder ausschliesslich Biografien oder nie etwas anderes als ein Sachbuch: Julian Barnes bedient alle drei Ansprüche und bringt sie unter einen Hut als fesselnde und elegant formulierte Zeitgeschichte. Was klingt wie eine übersprudelnd erdachte Fiktion, ist detailgenau recherchierte Realität. Die Biografie des ruhmvollen Frauenarztes und strahlenden Salonhelden Samuel Jean Pozzi (1846–1918) weitet sich aus zu einem Sittengemälde der Belle Epoque und einem Vergleich zwischen der damaligen französischen und englischen Lebensweise. Aussergewöhnlich. Mit dem Einwand, dass das Lesevergnügen schon nach 299 Seiten endet.
BTB, München 2022, 299 Seiten
Gianfranco Calligarich: Der letzte Sommer in der Stadt
Der Roman erschien erstmals 1973, erwarb sich Kultstatus, ging vergessen und wurde jetzt aus der Versenkung geholt. Er ist lesenswert geblieben, wie die thematisch vergleichbaren Filme «La Dolce Vita» von Federico Fellini und «La Grande Bellezza» von Paolo Sorrentino sehenswert. Der Roman hat autobiografische Bezüge und schildert Rom lakonisch, melancholisch und ironisch. Der Ich-Erzähler Gianfranco Calligarich kommt als Journalist prekär über die Runden, verkehrt in höheren Kreisen mit einem Hang zur Dekadenz und scheitert letztlich an der Stadt und ihren Menschen. Weder Selbstmitleid noch Happy End. Eine grossartige, glänzend federleicht geschriebene Hommage an Rom.
Zsolnay, Wien 2022, 207 Seiten
IGNAZ STAUB EMPFIEHLT
Sergio Rossi/Giovanni Scarduelli: Edward Hopper – Maler der Stille
Noch immer fliegt das Genre der Graphic Novel eher unter dem Radar der seriösen Literaturkritik, auch wenn es einzelne Vertreter wie der Amerikaner Art Spiegelman geschafft haben, breite Anerkennung zu finden. Dass Graphic Novels nicht mit herkömmlichen Comics zu verwechseln sind, zeigen auch die beiden italienischen Illustratoren Sergio Rossi und Giovanni Scarduelli, die sich des Malers Edward Hopper (1882–1967) und dessen bewegter Biografie angenommen haben. Und auch Hoppers unverwechselbar realistischen Bildern, die längst zu Ikonen der amerikanischen Kultur geworden sind
Midas Verlag, Zürich 2022, 124 Seiten
Don Winslow: City on Fire
Bisher spielten Don Winslows packende Thriller im Drogenmilieu der amerikanischen Westküste und des angrenzen Mexiko. Nun hat der Autor die Handlung des ersten Bandes einer neuen Trilogie von Kalifornien an die US-Ostküste nach Providence (Rhode Island) verlegt, wo er aufgewachsen ist und zeitweise noch lebt. Doch die einst blühende Stadt ist heruntergekommen und auch die irische und die italienische Mafia sind nicht mehr, was sie einmal waren. Das hindert die Kriminellen aber nicht daran, aus nichtigem Anlass einen blutigen Krieg zu führen, der am Ende nichts und niemanden verschont.
HarperCollins Publishers, London 2022, 371 Seiten
Carl Bernstein: Chasing History
Im Juni jährte sich zum 50. Mal der Einbruch in den Watergate-Komplex in Washington D.C. Er war der Ausgangspunkt der grossen Karriere Carl Bernsteins, der zusammen mit Bob Woodward für die «Washington Post» über den Fall berichtete, der 1974 Präsident Richard Nixon zum Rücktritt zwang. In seinen Memoiren erzählt der inzwischen 78-jährige Bernstein aber nicht über Watergate, sondern über seine Anfänge und Lehrjahre beim «Evening Star», der damaligen Abendzeitung der US-Hauptstadt. Für den «Star» begann er 16-Jährig als Copyboy zu arbeiten und auf der Redaktion des Blattes reifte er zu einem Reporter erster Güte.
Henry Holt and Company, New York 2022, 371 Seiten
STEPHAN WEHOWSKY EMPFIEHLT
Georgi Gospodinov: Zeitzuflucht
Erinnerungen bilden ein eigenes Reich. Um dazu den Zutritt zu erleichtern, wird in Zürich eine Privatklinik eingerichtet, deren einzelne Räume mit Möbeln, Utensilien und anderen Details wie Gerüchen jeweils exakt früheren Zeiten nachempfunden sind. Diese Klinik ist ein Riesenerfolg. Georgi Gospodinov, der gegenwärtig wichtigste Literat Rumäniens, spürt auch den dunklen Seiten erinnerter Geschichte nach. Er hat mit beeindruckender sprachlicher Kraft und streckenweise grossem spielerischen Witz sein bisher wohl bestes Buch geschrieben
Aufbau Verlag, Berlin 2022, 342 Seiten, aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann
Katja Petrowskaja: Das Foto schaute mich an
Katja Petrowskaja hat Kolumnen aus sechs Jahren, von 2015 bis 2021, zusammengestellt. Die Auswahl der Bilder und die Gedanken, die sie damit verbindet, machen wieder und wieder staunen. Sie verbindet ihre grosse Beobachtungsgabe mit höchst präzisen Beschreibungen auch ihrer eigenen Empfindungen – und das alles mit grösster sprachlicher Souveränität. Die Themen der Bilder sind weit gespannt. Sie folgen keiner strengen Ordnung, sondern stehen jeweils für sich. Das Buch hat den Charakter eines Vademekums, das stets neue Türen öffnet.
Bibliothek Suhrkamp, Berlin 2022, 256 Seiten, 52 s/w und farbige Abbildungen
Gabriele Riedle: In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg
Gabriele Riedle war als Reporterin 20 Jahre lang weltweit unterwegs. Der Tod eines Kollegen ist für sie Anlass, noch einmal ganz neu über dieses Reporterleben nachzudenken. Herausgekommen ist dabei eine geistvolle Suada voller scharfsinniger Beobachtungen und treffender Bosheiten. Wieder und wieder nimmt sie einen Chefredakteur in Hamburg und einen in Manhattan aufs Korn, wie sie überhaupt den ganzen Zirkus der herumgeisternden Reporter, aber auch sich selbst ironisch seziert. Einen ganzen Köcher voller Pfeile hat sie auf Peter Arnett abgeschossen.
Die andere Bibliothek, Berlin 2022, 264 Seiten
REINHARD MEIER EMPFIEHLT
Lea Yipi: Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte
Die heute 42-jährige Lea Yipi erzählt mit jugendlicher Frische von ihrer Kindheit und Jugend in Albanien. Sie war 14 Jahre alt, als der stalinistischen Diktator Enver Hoxha starb, der sein Land mit eisernem Griff regierte und sich zuerst mit den sowjetischen «Revisionisten» und später auch den chinesischen Kommunisten überworfen hatte. Die Autorin berichtet über das Leben ihrer Familie in Albanien weitgehend aus ihrer damaligen kindlichen Perspektive. Den Diktator Hoxha nennt sie «Onkel Hoxha». Als das kommunistische Regime Anfang der 90er Jahre zusammenbricht, schlägt die Begeisterung über die anbrechende Freiheit bald in Skepsis und Enttäuschung um über einen skrupellosen kapitalistischen Materialismus und die durch Arbeitslosigkeit ausgelöste Massenflucht ins Ausland. Lea Yipi gelingt aber dank Glück und Klugheit ein Aufstieg bis zur Philosophie-Professorin an der London School of Economics. Von dieser intellektuellen Warte aus bekennt sie, dass ihr die Grundidee des Marxismus emotional näher liegt als der materialistische Liberalismus. Offengelassen wird, wie sich der marxistische Idealismus mit der Praxis der Freiheit in Übereinstimmung bringen liesse.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 332 Seiten
Iwan Turgenjew: Faust
In diesen Tagen des Putinschen Eroberungs- und Zerstörungskrieges in der Ukraine hört und liest man nicht viel Gutes über Russland und seine Gesellschaft. Als Rezept gegen allzu kategorische und pauschale Urteile empfiehlt sich die Beschäftigung mit russischer Kultur, insbesondere die Lektüre (oder das Wiederlesen) russischer Klassiker. Unter den grossen russischen Autoren des 19. Jahrhunderts gilt Iwan Turgenjew als der profilierteste «Westler». Er war tief überzeugt von der inneren Zusammengehörigkeit der russischen und der westlichen Kultur, wusste aber auch um die Besonderheiten der russischen Herrschaftstradition und der von ihr geprägten Volksmentalität. Turgenjew war in keiner Weise ein Ideologe. Er interessierte sich für die einzelnen Menschen und deren individuelle Schicksale. Deren seelische Befindlichkeiten, Beziehungen und Bedingtheiten entfaltet und beschreibt er in subtiler Weise. Die Erzählung «Faust» bietet einen guten Einstieg in Turgenjews vielschichtige russische Gesellschaftswelten und seinen Stil des «poetischen Realismus». Es handelt sich um eine Geschichte in neun Briefen. Schon der Titel deutet an, wie eng dieser russische Autor gleichzeitig mit der deutschen (ähnlich wie mit der französischen) Kultur verbunden war.
Hofenberg-Verlag, Berlin 2016, 52 Seiten
Tracy Chevalier: Das Mädchen mit dem Perlenohrring
Im Jahre 1664 wird in der niederländischen Stadt Delft die 17-jährige Griet beim Maler Johannes Vermeer als Hausmädchen angestellt, nachdem ihr Vater sein Augenlicht und seinen Verdienst verloren hat. Der Meister lässt diskretes Wohlwollen für das Mädchen erkennen, das täglich sein Atelier putzt und erteilt ihr die Aufgabe, seine Farben anzumischen. Auf dringenden Wunsch seines Mäzens, der das Mädchen bedrängt, malt er das Portrait von Griet. Dies verstärkt die latente Spannung mit Vermeers Ehefrau und deren heimtückischer Tochter Cornelia. Als Vermeers Frau herausfindet, dass Griet ihre kostbaren Ohrringe für das Bild getragen hat, kommt es zum Skandal. Griet verlässt das Haus und heiratet den gutmütigen Fleischer Pieter. Die amerikanische Autorin Tracy Chevalier hat sich von dem berühmten Bild des Mädchens mit dem Perlohrring und dem unergründlichen Blick über die Schulter zu diesem Roman inspirieren lassen. Er wird allein aus Griets Perspektive erzählt. Das Buch ist schon vor 20 Jahren erschienen und millionenfach verkauft worden. Kein Wunder, denn die Geschichte aus einer weit zurückliegenden Zeit und der rätselhaften Beziehung zwischen dem grossen Meister Vermeer, über dessen Leben wenig bekannt ist, und seinem Modell zieht den Leser schon nach den ersten Zeilen in Bann.
Atlantik Verlag, Hamburg 2019, 272 Seiten
CHRISTOPH KUHN EMPFIEHLT
Klaus Pohl: Sein oder Nichtsein
Klaus Pohl ist ein 70-jähriger deutscher Schauspieler und Schriftsteller. Unter dem Titel «Sein oder Nichtsein» hat er einen Roman geschrieben, der einen so richtig packen und durchschütteln kann. Das Thema ist eine real stattgefundene vielwöchige Probenarbeit, die 1999 zu einer kultisch verehrten Theateraufführung geführt hatte: «Hamlet», inszeniert von Peter Zadek, mit einer Reihe prominenter Schauspieler und Schauspielerinnen. Die Hauptrolle spielte Angela Winkler. Pohl wirkte mit, in der Rolle des Horatio, und war also gleichzeitig, was den Stoff seines Romans angeht, Mitwirkender wie Deuter. In «wohltemperierter dichterischer Freiheit» wolle er erzählen, sagt er uns listig auf den ersten Seiten des Buchs und liefert uns dann einen mal emotionalen, mal scharfsinnig analysierenden Text, der ins Komische, Tragische, Irrsinnige geraten kann und, alles in allem, Theater in Prosaform bietet. Bestes Theater.
Galiani Verlag, Berlin 2021, 228 Seiten
Charles Linsmayer: 20/21 Synchron
Vielstimmigkeit, Vielseitigkeit, Fantasie ohne Grenzen – das sind die ersten Eindrücke, die das Buch, um das es hier geht, hinterlassen. Man kann es aufschlagen und lesen, wo man will. «20/21 synchron», herausgegeben von Charles Linsmayer, vereinigt 135 Prosatexte und Gedichte von ebenso vielen Autoren und Autorinnen der Schweiz. Die Texte stammen aus den Jahren 1920 bis 2020 und kommen aus allen Sprachregionen der Schweiz. Im Anhang porträtiert der Herausgeber die von ihm Ausgewählten – ausgesprochen persönlich. Für seine Anthologie hat Linsmayer eine beachtliche Anzahl bisher nicht publizierter Texte erhalten, was der Lektüre einen speziellen Reiz verleiht. Linsmayer ordnet die Texte nicht chronologisch an, sondern thematisch, was gelegentlich zu verblüffenden Verwandtschaften führt, auf die man nicht gekommen wäre. 135 Texte, 135 Fantasiewelten, alle der kleinen Schweiz entstammend – man gerät, während man liest, zunehmend ins Staunen.
Th. Gut Verlag, Zürich 2022, 576 Seiten
Henri-Alain Fournier: Der grosse Meaulnes
Es gibt Bücher, die ihren Zauber nicht verlieren, die nicht zu altern scheinen –, was man sich, durch wiederholte Lektüren, immer aufs neue bescheinigen lässt. «Der grosse Meaulnes», einziger Roman des im ersten Weltkrieg umgekommenen französischen Schriftstellers Henri Alain Fournier (1886–1914), gehört zu dieser Kategorie von Büchern. Sorgfältig, langsam und behutsam wird das ärmliche Leben in der französischen Provinz aus der Sicht des 15-jährigen François erzählt. In die Schule, die der Vater des Erzählers leitet, tritt ein neuer Schüler ein, den bald alle den «grossen Meaulnes» nennen, ein attraktiver, schon halb erwachsener, eigensinniger und abenteuerlustiger junger Mann. Meaulnes verschwindet eines Tages und kehrt verwirrt, verzaubert zurück. Er lebt fortan in der Erinnerung an ein Schloss, ein Maskenfest, ein schönes Mädchen, verzehrt sich in einer Sehnsucht, die nicht gestillt werden kann, auch nicht, als seine Zauberwelt reale Züge annimmt. Letztlich ist es das, was Fourniers Roman unsterblich macht: die Beschreibung, die Evokation der Sehnsucht in ihrer reinsten Form.
Thiele Verlag, Köln 2022, 320 Seiten, aus dem Französischen von Christiane Landgrebe
GISELA BLAU EMPFIEHLT
Henry Kissinger: Staatskunst
Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert: Der «Jahrhundertpolitiker» ist im Mai 99 Jahre jung geworden, doch seine Ansichten finden andächtige Zuhörer. Und er hat ein neues Buch geschrieben, das, passend, am 4. Juli, dem US-Nationalfeiertag weltweit und auch auf Deutsch erscheint. Darin hält der frühere Aussenminister, Sicherheitsberater, Friedensnobelpreisträger und Weltdiplomat Rücksschau auf sein reiches Leben und beschreibt sechs Staatsleute, denen er sich besonders verbunden gefühlt hat, unter anderen Charles de Gaulle und Margaret Thatcher. Das Buch wird mit Spannung erwartet und verspricht, bisher unbekannte Einblicke in Kissingers Jahrhundert zu liefern.
C Bertelsmann Verlag, München 2022, 608 Seiten
Das Tagebuch der Anne Frank, Jubiläumsausgabe
Kaum ein Name ist so bekannt wie jener des deutschen Mädchens, das mit seiner Familie in einem Haus in Amsterdam vor dem Zugriff der Nazis versteckt wurde und dann dennoch ins Vernichtungslager Bergen-Belsen deportiert wurde. Dort starb Anne Frank kurz vor der Befreiung. Der einzige Überlebende der beiden in Amsterdam versteckten Familien war Annes Vater Otto Frank. Vor 75 Jahren brachte er die Tagebücher seiner Tochter Anne auf Holländisch heraus. Der S. Fischer Verlag legt eine Jubiläumsausgabe vor, die Fotos und Rahmentexte enthält. Der Band wurde vom Anne Frank Fonds Basel, der die Rechte am Tagebuch verwaltet, autorisiert. Die Tagebücher des jungen Mädchens, das festhält, an das Gute im Menschen zu glauben, berührt auch heute noch tief. Ein Geschenk an alle Generationen in einer Zeit, da die Pandemie die Leugner und Missbraucher des Holocaust wieder an die Oberfläche gespült hat.
S. Fischer Verlag, Berlin 2022, 324 Seiten
Donna Leon: Milde Gaben
Zahlreiche Fans bedauern, dass es keine neuen TV-Filme mehr gibt, die aufgrund von Donna Leons Krimis vor der grossartigen Kulisse Venedigs spielen. Kürzlich ist der grandiose Darsteller des Vice-Questore Patta verstorben – Michael Degen hat den Holocaust überlebt und auch alle seine Kritteleien an seinen Mitarbeitern. Doch Donna Leon lässt ihre Bewunderer nicht im Stich. Beinahe jedes Jahr erscheint ein frischer Venedig-Kriminalroman, und jetzt schenkt der Diogenes Verlag der Donna-Leon-Gemeinde bereits Commissario Brunettis 31. Fall. Es ist ein ungewöhnlicher Fall, denn Brunetti scheint sich selber in Gefahr zu bringen, weil er einer Jugendfreundin und deren Familie behilflich sein möchte. Keine Bange – Brunetti landet nicht vor Gericht oder gar im Gefängnis, sondern liefert eine überaus spannende Geschichte, wie man sie von ihm gewohnt ist.
Diogenes Verlag, Zürich 2022, 352 Seiten
HEINER HUG EMPFIEHLT
Ueli Oswald: «Ich weine nicht, weil ich getötet habe, ich weine um Susanna»
Es ist Nacht im Städtischen Krankenhaus, dritter Stock, Chirurgie. Ein Mann hat eine Operation hinter sich und will sich die Beine vertreten. Er geht auf den Flur, es wird im schwindlig, er setzt sich. Da öffnet sich die Tür und ein anderer Patient setzt sich zu ihm. Und da beginnt die unglaubliche Geschichte. Der andere, Ernesto heisst er, ein Schweizer, erzählt sein Leben. Es ist eine verrückte, wilde, emotionale, gewalttätige Geschichte. Ernesto war in den Sechziger- und Siebzigerjahren Guerillero in Argentinien. Er hatte eine Widerstandgruppe gegründet, Banken überfallen und Soldaten, Polizisten und Verräter getötet. Und da war Susanna ... Ein Buch, so spannend, dass man es in einem Zug liest.
Edition 8, Affoltern a. A. 2022, 168 Seiten
Rüdiger von Fritsch: Zeitenwende
«Putins Krieg und die Folgen» heisst der Untertitel. Rüdiger von Fritsch ist ein «Putin-Versteher» – aber andersherum. Er hat null Verständnis für den Krem-Herrscher, versteht aber, was ihn zu diesem schrecklichen Krieg antreibt. Von Fritsch war Botschafter in Moskau und ist Putin mehrmals begegnet. Putin sei in seiner Obesisson gefangen, Russland wieder zu imperialer Grösse zurückzuführen. Seine Wahrnehmung der Wirklichkeit sei verzerrt. Kann Putin gestoppt werden? Was geschieht mit der Ukraine? Wo endet Putins imperiales Bestreben? Aktueller kann ein Buch nicht sein.
Aufbau Verlag, Berlin 2022, 183 Seiten, Taschenbuch
Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine
Die erste Version dieses Buches ist 27 Jahre alt. Die jetzige, fünfte, überarbeitete und aktualisierte Auflage stammt aus dem Jahr 2019. Der Schweizer Historiker Andreas Kappeler, einer der besten Kenner Osteuropas und Russlands, beleuchtet das immer schon belastete Verhältnis der beiden «Brüdervölker» Russland und Ukraine und trägt viel zum Verständnis des heutigen Krieges bei. Anschaulich beschreibt Kappeler die Geschichte eines Landes, das lange Zeit im westlichen Ausland kaum zur Kenntnis genommen wurde und dessen plötzliches Auftreten in der europäischen Politik für den Westen überraschend kam.
C. H. Beck Verlag München 2019, 431 Seiten, Paperback
P.S.: Fast alle dieser Bücher sind auch als E-Books erhältlich.
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