Es war genau genau 03.10 Uhr am Samstag 25. Juli, als ich in Bern den Automotor startete. Ich hatte 48 Stunden vorher das sogenannte PLF-Formular ausgefüllt und elektronisch bei der griechischen Regierung eingereicht. Man würde mir einen QR-Code schicken, den ich beim Grenzübertritt vorweisen muss.
Bis Chiasso ging alles glatt. In Italien wartete ich zuerst 20 Minuten, um zwei Euro abzudrücken für die erste Autobahnmaut. Für die Strecke Mailand-Bologna, die ich normalerweise in zwei Stunden fahre, brauchte ich diesmal deren 3,5. Die Italiener reisen in die verdienten Sommerferien. Und bei Bologna ging es gleich weiter: Stockender Kolonnenverkehr nennt man das in der Schweiz. Erst nachdem die Sonnenanbeter bei Rimini weg von der Strasse waren, rückte es. Ich drückte aufs Gas und war um 13.20 Uhr beim Check-in am Hafen von Ancona.
Ich war nicht der letzte Passagier für die Fähre, deshalb wurde ich noch registriert. Pünktlich um 13.30 Uhr war ich an Bord und kurz darauf legte das Schiff ab. Ich nahm Rollkoffer und Rucksack und schaute mich um. Im Heck gab es einen weiten Innenraum, eine grosse Tür zum Schiffsdeck stand offen. In der Ecke war ein Tisch. Ich legte Schlafsack und Luftmatratze hinter den Tisch und meine Sachen darauf – fast wie eine Kabine.
Das Schiff war ausgebucht. Kabinen sind Mangelware, weil diese nicht gemischt werden dürfen und wegen Corona nur von fixen Reisegruppen belegt werden. Masken sind auf dem Schiff obligatorisch, werden aber nur in den Innenräumen getragen. Um mich herum wurde praktisch nur Türkisch gesprochen. Luftmatratzen wurden aufgeblasen, Picknicks wurden hervorgeklaubt. Ich war kaputt von der langen und nervigen Autofahrt und der kurzen Nacht und legte mich entgegen meiner Gewohnheit eine Stunde zum Schlafen hin.
Ich erfuhr, dass türkische Fahrgäste einen grossen Teil der Passagiere auf den griechischen Schiffen zwischen Italien und Griechenland ausmachen. Sie verlassen das Schiff am frühen Morgen im nordgriechischen Igoumenitsa und fahren über die neue Autobahn durch Nordgriechenland in die Türkei. Nach den langen Sommerferien werden sie wieder über die gleiche Route zurückreisen. An der Grenze werden sie wohl angeben, dass sie die Sommerferien in Italien verbracht haben, um die Quarantäne zu umgehen …
Nach dem Abendessen und dem Bier auf dem offenen Schiffsdeck ging ich schnell schlafen. Um 05.30 Uhr stubste mich ein Matrose an: «Igoumenitsa?» fragte er. «Ochi, Patras», sagte ich und warf einen kurzen Blick um mich herum. Der Raum war leer, alle Luftmatratzen und Passagiere weg. Ich konnte ausschlafen.
Nach dem Frühstück rollte ich meine Habe zusammen. Mittlerweile hatte mir die griechische Regierung per Mail den QR-Code geschickt. Die Frau am Empfang druckte ihn aus. Aufgrund der Angaben auf dem elektronischen Formular betreffend Herkunft und Länder, die ich in den letzten Wochen besucht habe (ich war «nur» in Deutschland), entscheiden die Griechen, wer bei der Einreise auf Covid-19 getestet wird.
Ich begann, auf dem offenen Schiffsdeck einen Krimi von Petros Markaris zu lesen – immer meine Lektüre in den Sommerferien – bis ich die bekannte Brücke von Rio-Antirio am Horizont sah. Die Frau am Empfang hatte mir gesagt, dass ich aufgrund der Tatsache, dass ich spät an Bord gekommen war und die meisten Autos und Lastwagen bereits in Igoumenitsa die Fähre verlassen hatten, praktisch als Erster das Schiff verlassen müsse und mit deshalb sputen soll. Die Letzten werden die Ersten sein!
Ich ging deshalb zeitig in die Garage und prüfte Öl und Wasser – dieses alte Auto behalte ich praktisch nur noch deshalb, weil ich im Sommer in Griechenland ein Fahrzeug brauche. Es braucht nach zwanzig Jahren auf Griechenlands Strassen entsprechend Zuwendung. Und siehe da: Kaum zwei Minuten nach Ankunft in Patras am Peloponnes hatte ich Land unter den Rädern. An einer Kontrollstation musste ich meine Identitätskarte und meinen QR-Code vorweisen. Er wurde gescannt – und die Beamtin wünschte mir einen guten Sommer: ich durfte losfahren. Das Auto neben mir mit französischem Kennzeichen wurde hingegen zur Covid-19-Station geschickt, die sich gleich daneben befindet. Melden sich die Beamten des Gesundheitsministeriums dann nicht innert vier Stunden, ist der Test negativ und dem Ferienglück steht nichts im Weg.
Kaum fünf Minuten nach Starten des Motors war ich unterwegs. Der Tank war praktisch leer, denn am Vortag war fürs Tanken in Italien keine Zeit. Ich stoppte bei der zweiten Tankstelle (die erste ist immer viel teurer). Der Tankwart rauchte direkt neben der Zapfsäule. Als er mich sah, drückte er die Zigarette schnell aus. Nach dem Auffüllen fuhr ich auf der neuen Autobahn Richtung Korinth. Sie wurde nach der Finanzkrise neu gebaut. Der Verkehr ist spärlich und die Fahrt angenehm. Einige Kilometer vor Korinth kenne ich eine Autobahnraststätte. Sie befindet sich inmitten eines Pinienhains und es wird frische Hausmannskost angeboten. Ich ass an einem schattigen Holztisch gefüllte Auberginen und hörte vom Autoradio griechische Musik – wo in Europa gibt es das noch? Am Abend traf ich rechtzeitig zur Geburtstagsfeier meiner Tochter in unserem Sommerhaus auf der Insel Euböa ein.
Gerät die Corona-Situation ausser Kontrolle?
„Die Corona-Situation könnte schnell ausser Kontrolle geraten.“ Das stellte der Covid-19-Beauftragte des Gesundheitsministeriums Sotiris Tsiodras fest. Der Virologe meldete am 4. August während seines ersten Fernsehauftritts seit mehr als zwei Monaten 121 neue Corona-Fälle. Am 9. August waren es schon über 200 (einen Tag später bedeutend weniger). Seit dem Ende der Ausgangssperre im Mai wurden keine solchen Werte mehr registriert.
Im Vergleich zu anderen Ländern steht Griechenland aber immer noch gut da. Weniger als 5000 Menschen sind positiv getestet worden. Auch mit 210 Todesfällen liegt man im unteren Bereich, denn auf eine Million Einwohner zählt Hellas 19 Todesopfer. In Deutschland, das ebenfalls bisher gut durchgekommen ist, sind es etwa 110. Der Grund für die sich verschlechternden Zahlen ist einerseits die Öffnung der Grenze – im Juli gab es bereits etwa eine Million Grenzübertritte – andererseits werden die Schutzmassnahmen an vielen Orten kaum mehr eingehalten.
Griechenland reagierte schnell: Ab sofort herrscht Maskenpflicht in allen Innenräumen – auch in Kirchen. Auch in Aussenräumen, wo die Abstände nicht eingehalten werden können, müssen Masken getragen werden, zum Beispiel auf offenen Schiffsdecks. In Bars und Clubs muss man sich hinsetzen. Die Regierung betonte aber auch, dass kein zweiter genereller Lockdown vorgesehen sei.
Das Tourismusgeschäft – die Saison hat erst Mitte Juni angefangen – nimmt mittlerweile Fahrt auf. Griechenland profitiert davon, dass andere Warmwasserdestinationen stärker mit dem Virus zu kämpfen haben oder sogar auf einer Quarantäneliste stehen. Kann man aber Ferien unter diesen Umständen geniessen?
Sicher, wer nicht jeden Abend in Clubs und Bars abtanzen will, wird kaum stärkere Einschränkungen zu gewärtigen haben als zu Hause. Falls aber die Coronafälle explosiv zunähmen und Griechenland auf eine Quarantäneliste käme, wäre das ein negatives Signal. Aber davon sind wir Stand heute noch weit entfernt. Ich verbringe jedenfalls meine Ferien praktisch so wie jedes Jahr, mit ganz wenigen Einschränkungen wie Maskenpflicht in Geschäften.
Wirtschaft entgleist
Die Yields der fünfjährigen griechischen Staatsanleihen sind in diesen Tagen auf sage und schreiben 0,234 Prozent gefallen. Das zeigt, dass Hellas nun einen Ruf als guter Schuldner geniesst, obwohl die Anleihen nicht über einen Investmentgrad verfügen. Das ist aber – abgesehen von der Tatasache, dass der Tourismus langsam in die Gänge kommt – schon die einzige positive Nachricht von der Wirtschaftsfront.
Es war zu erwarten: Da schon Januar und Februar knapp daneben gingen, musste im Zeichen der Coronavirus-Pandemie ein Defizit von mehr als sechs Milliarden Euro registriert werden. Budgetiert war ein Primärüberschuss (Überschuss vor Zinsen und Amortisationen) von 313 Millionen. Bisher hat die Europäische Union für die Verfehlung des Ziels Verständnis gezeigt, und Griechenland kann auch mit etwa 70 Milliarden Euro (diesmal nicht rückzahlbar!) aus dem neuen europäischen Aufbaufonds rechnen. Dennoch dürfte die Pandemie zu einem Wirtschaftseinbruch führen.
Der Tourismus hat einen Anteil von über 20 Prozent an der Wirtschaftsleistung. Auch bei einer einigermassen passablen Tourismussaison dürfte der Einbruch (gemessen am Bruttoinlandprodukt BIP) gemäss OECD 8 bis 9 Prozent betragen. Die OECD sieht für das nächste Jahr einen Aufschwung von lediglich 2,3 bis 4,5 Prozent voraus. Die Beschäftigung soll in beiden Jahren schrumpfen: Für 2020 geht die OECD im besten Fall von einem Rückgang der verfügbaren Arbeitsplätze um 3,5 und im Jahr 2021 nochmals um 1 Prozent aus. Nachdem die Finanzkrise dazu geführt hatte, dass breite Kreise Griechenlands verarmten und der Mittelstand extrem unter Druck kam, sieht das Land jetzt einem zusätzlichen Einbruch entgegen, der von der Stärke her einzigartig ist. Allerdings sind die Griechen krisengestählt. Reist man durchs Land, merkt man von diesem Einbruch wenig.
Pensionierte, denen in der Finanzkrise die Rente gekürzt wurde, gingen in den letzten Jahren massenhaft vor Gericht. Und sie erhielten Recht: Ein Gericht verurteilte jüngst den Staat zu milliardenschweren Rentennachzahlungen, was den Haushalt weiter belasten wird. Diese Nachzahlungen werden zwar von den Rentnern begrüsst, aber was ist mit den Arbeitslosen oder den Menschen, deren Lohn stark gekürzt und in vielen Fällen unter das Existenzminimum gedrückt wurde?
Eine Moutza für Mevlüt Çavuşoğlu
Von Ferne höre ich den Fernseher. Plötzlich eine laute Stimme: «Na, na, nimm!» Ich trete näher ans Fernsehgerät und beobachte eine sogenannte «Moutza», die der Fernsehende dem Gerät entgegenschleudert. In der Sendung spricht der türkische Aussenminister Mevlüt Çavuşoğlu.
Eine Moutza ist die traditionelle Geste der Beleidigung in Griechenland. Sie besteht darin, dass alle Finger der Hand ausgestreckt und gespreizt werden und die Handfläche mit einer Vorwärtsbewegung zum Gesicht der zu beleidigenden Person hin präsentiert wird. Sie wird oft mit „na“ (hier) oder mit Schimpfwörtern versehen, was auch hier der Fall war. Der Ursprung der Geste lässt sich bis in die Zeit des byzantinischen Reichs oder sogar bis in die Antike zurückverfolgen, als sie noch als Fluch verwendet wurde.
Eine vernünftige Regelung des bilateralen Verhältnisses wie es Griechenland mit Nordmazedonien (vgl. hier und hier) gelungen ist, scheint, wie Figura zeigt, im Verhältnis zur Türkei in weiter Ferne zu liegen. Hintergrund für die gereizte Stimmung sind Erdgasvorkommen in der Region, wovon die Türkei gern profitieren möchte. Immer wieder wurden türkische Forschungsschiffe dorthin entsandt. Ankara setzt sich dabei regelmässig über geltendes internationales See- und Völkerrecht hinweg. Erst kürzlich hatte die Türkei im Zusammenhang mit solchen Expeditionen zahlreiche Kriegsschiffe in die Region südlich von Kreta und Rhodos geschickt. Das rief die griechische Kriegsmarine auf den Plan.
Zumindest für einen Moment schien aber die Türkei von der Politik der ständigen Provokation etwas abzurücken. Offenbar haben für einmal auch die europäischen Staaten ein Machtwort gesprochen und Präsident Erdogan in die Schranken gewiesen. Gerade Bundeskanzlerin Merkel scheint durch Direktkontakte Schlimmeres verhindert zu haben. Das ist nicht selbstverständlich, denn Deutschland tendiert seit dem Ersten Weltkrieg immer dazu, die Türkei im Vergleich zu Griechenland zu bevorzugen.
Griechenland und Ägypten haben sich am 6. August auf die Einrichtung einer Ausschliesslichen Wirtschaftszone (AWZ) im östlichen Mittelmeer geeinigt und in der ägyptischen Hauptstadt einen entsprechenden Vertrag unterzeichnet (mehr zum Hintergrund hier). Die Türkei bezeichnete die Vereinbarung umgehend als «inexistent». «Das werden wir an der Front und am Tisch beweisen“, sagte der türkische Aussenminister Mevlüt Çavuşoğlu, was die oben beschriebene uralte, traditionell griechische Geste provozierte. Çavuşoğlu erwähnte hier in einem Satz kriegerische Auseinandersetzungen und Verhandlungen. Zusätzlich kündigten die Türken Manöver zwischen den griechischen Inseln Rhodos und Kastellorizo an. Die Griechen hingegen schlugen ein Moratorium und Verhandlungen vor. Begleitet von der türkischen Marine ist zurzeit ein weiteres türkisches Forschungsschiff vor Ort auf dem griechischen Festlandsockel. Die griechische Kriegsmarine ist ebenfalls präsent. Die Zeit der Entspannung war kurz.
Präsident Erdogan goss weiteres Öl ins Feuer, indem er seinen Jugendtraum verwirklichte: Die byzantinische Kirche Hagia Sophia in Istanbul – seit der Zwischenkriegszeit ein Museum – ist wieder eine Moschee. Der Schmerz in Griechenland darüber ist gross und die Aktion wird bewusst als Schlag im Zusammenhang mit dem Streit um die kommerzielle Nutzung des Festlandsockels unter dem östlichen Mittelmeer gesehen. Wer spricht ein Machtwort und stellt sicher, dass die Provokationen aufhören?