Essen hat in China einen ganz besonderen Stellenwert. Erklären lässt sich das mit den immer wiederkehrenden Hungersnöten in der 3000-Jahre-alten Geschichte. Die letzte Hungersnot liegt erst knapp fünfzig Jahre zurück. Der Grosse Vorsitzende Mao Dsedong zwang in seinem utopischen Grössenwahn Chinesen und Chinesinnen in Volkskommunen mit dem Ziel, innert kürzester Zeit die Industriemächte einzuholen und hinter sich zu lassen.
Das Resultat des sogenannten „Grossen Sprungs nach Vorn“ war eine Katastrophe. 1959 bis 1961 verhungerten je nach Quelle zwischen 35 und 45 Millionen Menschen. Noch heute lernen chinesische Schülerinnen und Schüler, dass Naturkatastrophen zu dieser Hungersnot – wohl die grösste in der Menschheitsgeschichte – geführt hätten. Dass es eine von Menschenhand, genauer von Mao verursachte Kalamität war, wird bis auf den heutigen Tag von offizieller Seite ignoriert und verdrängt.
Das Volk ist empört
Das alte chinesische Sprichwort „das Essen ist der Himmel des Menschen“ gilt gerade wegen der traumatischen Hungererfahrungen mehr denn je. In China mit chinesischen Freunden zu essen, ist deshalb ein wahrlich wunderbares Erlebnis. Auch die oberste Führung, die gerne gut und viel isst – wie einst schon Mao mitten in der Hungersnot notabene – misst dem Essen hohe Priorität ein. Heute mehr denn je. Nicht aus Eigennutz, sondern weil in den letzten zehn Jahren sich die Nahrungsmittelskandale häufen.
Das Volk ist empört. Derart aufgebracht gar, dass nach repräsentativen Umfragen Nahrungsmittel-Sicherheit gleich nach Korruption und noch vor Umweltverschmutzung zur grössten Sorge geworden ist. Der neue Premierminister Li Keqiang hat im April, kaum im Amt, Klartext gesprochen und versucht, die Empörten zu besänftigen. „Nahrung ist essentiell“, sagte Li, „und Nahrungsmittel-Sicherheit sollte eine Top-Priorität sein, denn saubere Lebensmittel sind die Grundlage für Gesundheit, wirtschaftliche Entwicklung und soziale Harmonie“. Die unterregulierte Nahrungsmittel-Industrie, versprach Premier Li, müsse dringend in sichere Bahnen gelenkt werden.
Die Skandale haben die Parteikader erschreckt
Warum ist das trotz der seit über einem Jahrzehnt nicht abbrechenden Reihe von Skandalen bislang nicht gelungen? Die „Hua Shang“-Zeitung der Nordprovinz Shaanxi gibt einige Hinweise: „Das unvollkommene Rechtssystem, zu wenig Kontrolleure, zu wenig Ausbildung, mangelndes Pflichtbewusstsein – das alles sind gewiss Gründe. Doch um es spezifischer auszudrücken: nicht zu übersehen ist auch, dass unser System die Whistleblowers nicht ermuntert, mit solchen ‚Handels-Geheimnissen’ an die Öffentlichkeit zu treten“.
Das sind für chinesische Presse-Verhältnis ungewöhnlich deutliche Worte. Die Skandale haben ganz offensichtlich die Parteikader bis zu oberst in Peking erschreckt. Der Baby-Milchpulver-Skandal von 2008 – kurz vor den Olympischen Spielen in Peking – hatte weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Fast 300'000 Babies wurden zum Teil schwer krank. Zwei Dutzend sind damals gestorben. Die Behörden versuchten, den Skandal zu vertuschen. Das brachte die Volksseele endgültig zum kochen. „Schliesslich“, sagte damals eine betroffene Mutter, „geht es um unsere Kinder, die Zukunft der Nation“. Die Regierung lenkte ein, die Verantwortlichen des Milchpulver-Skandals wurden hart bestraft.
Fast-Food, Schnell-Imbiss
Doch trotz weiteren Massnahmen der Regierung wurden die „Handelsgeheimnisse“ weiter und sehr oft ungestraft weiter angewendet. Chinesische Ökonomen erklären sich das unter anderem mit den hauchdünnen Profitmargen der Lebensmittelindustrie. Andere Beobachter weisen auf die weit verbreitete Korruption hin. Lebensmittelkontrolleure liefern gegen Bezahlung nicht selten die gewünschte Lizenz. Auch die extrem komplexen Vorschriften der Lebensmittelindustrie im bürokratischen Dickicht sind einer stringenten Lebensmittelkontrolle wenig zuträglich.
Zudem sind die Verantwortlichkeiten der Bürokratie ziemlich verschwommen, denn es sind verschiedene Ministerien, Agenturen und Kommissionen beteiligt. Wegen der rasanten Wirtschaftsentwicklung hat sich auch die Industrie des Fast Food, des Schnell-Imbiss fast explosionsartig erweitert. Strassen- und Garküchen, improvisierte Imbissbuden, fliegende Händler von Mantou (Dampfbrötchen), Jiaozi (Ravioli) oder Pfannkuchen mit Eiern, Wurst, Salatblättern und mobile kleine Fressbuden für jeden Geschmack – sie alle machen eine umfassende Hygiene-Kontrolle extrem komplex und schwierig.
Mit Schafurin mariniert
Verglichen mit Europäischen Lebensmittel-Fälschungen – Gammelfleisch oder Pasta mit Pferdefleisch – sind die chinesischen Varianten um einiges krasser. Neueste Beispiele: In der Ostprovinz Jiangsu hat eine kriminelle Bande Ratten-, Nerz- und Fuchsfleisch mit Gelatine, Nitraten und roten Pigmenten zu „Schaffleisch“ verarbeitet und mit grossem Gewinn tonnenweise weiter verkauft. Billiges Entenfleisch wurde mit Ziegen- und Schafurin „mariniert“ und danach als teures echtes Lammfleisch angeboten.
In der Stadt Suzhou – dem Venedig des Ostens – haben Kriminelle Schweinekadaver aus dem Huangpu-Fluss gesammelt und nachher als frisches Schweinefleisch den ahnungslosen Konsumenten für teures Geld weitergereicht. In Shenyang im Nordosten Chinas hat ein Ehepaar 20'000 wegen der Vogelgrippe gekeulte Hühner mit grossem Gewinn auf die lokalen Märkte gebracht. Hunderte von Menschen wurden verhaftet. Die Polizei hat versprochen, durchzugreifen und die „Operation zur Verteidigung der Sicherheit auf dem Tisch“ gnadenlos weiterzuverfolgen. Gerade eben wurde in Schlagzeilen berichtet, dass der ehemalige Chef der 2003 gegründeten „Staatlichen Lebens- und Arzneimittelaufsicht“, Zheng Xiaoyu, hingerichtet worden ist. Er wurde verurteilt, weil er gegen reichliche Vergütung verschiedenen Nahrungsmittelfirmen die staatlichen Sicherheitslizenzen ohne Prüfung ausgestellt hatte.
Insektenspray als Konservierungsmittel
Die Skandal-Liste liesse sich seitenlang weiterführen. Kurz formuliert: grosse Mengen Antibiotika im Fleisch, Quecksilber im Mineralwasser, Insektenspray als Konservierungsmittel, gesundheitsgefährdender oder gar tödlicher Alkohol, jede Menge Pestizide im Gemüse, in Pilzen und in Früchten, x-mal rezykliertes Speiseöl, Eier mit Melanin, Doufu mit einem Cocktail von toxischen Zusätzen. Und all das ist nach Ansicht von chinesischen Ärzten nur die Spitze des Eisberges.
Laobaixing, der Normalbürger, kann bei alledem nur hoffen, dass es besser wird. Premier Li Keqiang und seine Genossen allerdings warten nicht, bis ihre Massnahmen in den Niederungen des Praxis Wirkung zeigen. Wenn es um Nahrungsmittel-Sicherheit geht, sind die roten Mandarine wählerisch. Wie auf der Website einer chinesischen Zeitung zu lesen war, wird das Essen der Spitzenkader sorgfältig vorbereitet mit Gemüse, Reis, Fisch, Schweine- und Rindfleisch so wie Geflügel von speziellen Farmen. Kein Wunder, dass dieser Bericht alsobald vom Internet entfernt worden ist.
Nur noch Gras essen
Ein Blogger auf dem Twitter-ähnlichen Sina Weibo schrieb, anspielend auf den „Chinesischen Traum“ von Staats- und Parteichef Xi Jinping: „Fragt nicht was der ‚Chinesische Traum’ ist, denn der einfache Traum besteht darin, dass wir richtiges Lammfleisch und nicht Fuchs oder Ratten essen“. Ein anderer Weibo-Blogger brachte es definitiv auf den Punkt: „Unter den gegenwärtigen Umständen ist es das beste, nur noch Gras zu essen wie die Kühe“.
Ihr Korrespondent indes frisst vorläufig kein Gras, sondern bleibt auf Zusehen hin noch immer mit Gusto der chinesischen Küche zugetan.