Gespräch in kleiner Runde mit Mitgliedern des PEN- Clubs in St. Petersburg. Die einheimischen Diskussionsteilnehmer, Schriftsteller und Publizisten, sind nicht gut zu sprechen auf die politischen Zustände im Lande. Das russische Volk habe sein Recht auf politisch unbedarfte Meinungen und zur Sehnsucht nach autoritären Führern immer voll ausgeschöpft, erklärt ein Literaturwissenschafter sarkastisch.
Nasch tschelowek - einer von uns
Dmitri Travin, ein bekannter Kommentator – unter anderem bei „Echo Moskwy“, dem politisch spannendsten Radiosender in Russland – sieht die Dinge gelassener. Man könne doch die heutigen Zustände in Russland als halbvolles oder als halbleeres Glas beurteilen, da gingen eben die Meinungen weit auseinander. Die Mehrheit unter den Vertretern der Intelligenzia, die er kenne, sei unzufrieden mit Putin und seinem Regime. Aber im breiten Volk seien die Meinungen im Ganzen wesentlich positiver. Da werde Putin unter dem Strich als Garant für eine gewisse Stabilität in einer stets von Chaos und Turbulenzen bedrohten Lebenswirklichkeit geschätzt – und ausserdem seinem ganzen Gehabe nach als „nasch tschelowek“, einer von uns, wahrgenommen.
Jelena Tschidschowa, die 2009 für ihren Roman „Zeit der Frauen“ – es geht darin um Erinnerungen an die furchtbare Zeit der Blockade Leningrads durch Hitlers Wehrmacht – mit dem russischen Booker-Preis ausgezeichnet wurde, macht aus ihrer kritischen Einstellung zu den jetzigen Verhältnissen ebenfalls kein Hehl. Aber sie unterstreicht energisch, mit den sowjetischen Zuständen möchte sie auf keinen Fall tauschen. Allein schon deshalb, weil es heute in der Literatur keinerlei politische Zensur mehr gebe.
Russische Erfolgsgeschichte an der New Yorker Börse
Auf Beispiele, die sich zum widersprüchlichen Bild vom halbvollen und halbleeren Glas zusammenfügen lassen, stösst man in den russischen Medien und bei Beobachtungen im russischen Alltag auf Schritt und Tritt. Die englischsprachige Tageszeitung „Moscow Times“ feierte die beiden Gründer des russischen Internetportals Yandex, Arkadi Wolosh und Ilja Segalowitsch, als beispielhafte Unternehmerpersönlichkeiten. Die beiden hatten ihr Unternehmen im Mai an die New Yorker Börse gebracht und waren dabei auf starkes Käuferinteresse gestossen, das die Yandex-Aktie gleich nach dem Start raketenartig in die Höhe trieb. Yandex betreibt eine Suchmaschine in Internet und bietet präzise Informationen über die aktuelle Verkehrssituation auf den Moskauer Strassen an. Auf den letzteren Dienst kann kein Autofahrer verzichten, der sich halbwegs effizient durch die chronischen Staus auf den überlasteten Strassen der russischen Hauptstadt zu schlängeln versucht.
Ein paar Tage vor dem Bericht über die Yandex-Erfolgsstory hatte ein Kommentator in der gleichen Zeitung darauf hingewiesen, dass mindestens sechs grosse westliche Banken ihre Vertretung in Russland aufgegeben oder stark reduziert hätten. Zu diesen Banken gehören so bekannte Namen wie Morgan Stanley, Banco Santander und Barclay’s Bank. Unter den Gründen für die „Flucht“ dieser Institute aus Russland werden unter anderem die immer unerträglicher werdende Korruption und, damit verknüpft, ein allzu unsicheres Investitionsklima aufgezählt. Laut dieser Darstellung ist Russland zwischen den Jahren 2000 und 2009 auf dem Korruptions-Index von Transparency International um 64 Ränge auf Platz 154 (von insgesamt 178 Ländern) abgerutscht – das heisst auf das Korruptionsniveau von Kenya und der Republik Kongo.
Die Justizifälle Politikowskaja und Chodorkowski
Auch auf dem Sektor Justiz und Strafverfolgung – seit langem ein Schwachpunkt in Russlands postsowjetischer Entwicklung – waren in letzter Zeit widersprüchliche Signale zu registrieren. Einerseits sind in in den vergangenen Wochen die beiden Mörder des Anwalts Stanislaw Markelow und der Journalistin Anastasia Barburowa, die sich für die Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen engagiert hatten, zu hohen Gefängnisstraffen verurteilt worden. Auch der mutmassliche Täter Ruslam Makmudow, der die prominente Journalistin Anna Politkowskaja 2006 in Moskau erschossen haben soll, ist in Tschetschenien festgenommen worden. Das weckt neue Hoffnungen, dass wenigstens einige unter den zahlreichen Morden an mutigen Presseleuten und Menschenrechtsaktivisten, die Russlands Ruf in der Ära Putin stark geschadet haben, doch noch aufgeklärt und gesühnt werden könnten. Ob allerdings auch die Hintermänner, die diese Taten veranlasst haben dürften, je zur Verantwortung gezogen werden, daran vermag vorläufig kaum jemand zu glauben.
Im prominentesten Rechtsfall Russlands, der Verurteilung des früheren Oligarchen Chodorkowski zu langjährigen Gefängnisstrafen, bleibt die Situation seit der zweiten Verurteilung des ehemaligen Ölmagnaten im vergangenen Dezember – eine zweite Verurteilung zum gleichen Komplex wie im ersten Prozess ist ohnehin eine juristische Absurdität – praktisch unverändert. Das Berufungsgericht in Moskau hat eine Revision des zweiten Verfahrens abgelehnt, aber die Gesamtstrafe für Chodorkowski von 14 auf 13 Jahre Gefängnis reduziert. Ausserdem hat der Europäische Gerichtshof in Strassburg den Antrag Chodorkowskis abgelehnt, den ersten Prozess gegen ihn als politisches Verfahren einzustufen – allerdings gleichzeitig auch einige Aspekte dieses Verfahrens nachdrücklich gerügt.
Viele Beobachter scheinen aber übersehen zu haben, dass die Strassburger Instanz dabei nur den ersten Prozess gegen Chodorkowski beurteilt hat. Die Prüfung des zweiten, juristisch noch stärker manipulatierten Verfahrens durch den Europäischen Gerichtshofes steht noch aus. Dieses Urteil könnte für das Putin-Medwedew-Regime sehr viel peinlicher werden. Amnesty International hat Chodorkowski inzwischen aufgrund des zweiten Prozesses zum politischen Gefangenen erklärt.
Bleibt Putin bis 2024 an der Macht?
Weil der Regierung solche Einstufungen nicht völlig gleichgültig sind, ist nicht auszuschliessen, dass die Moskauer Obrigkeit den prominenten Gefangenen in nächster Zeit wegen guter Führung noch vor Ablauf der gesamten Haftstrafe im Jahr 2016 (der einst reichste Mann Russlands sitzt seit 2003 im Gefängnis) entlassen könnte. Ein Antrag in diese Richtung dieser Tage allerdings für erste abgelehnt worden ist.
Die Frage, wer im nächsten Frühjahr - nach Ablauf von Medwedews erster Amtszeit - als russischer Präsident im Kreml reagieren wird, scheint die russische Öffentlichkeit zurzeit nicht sonderlich zu elektrisieren. Niemand zweifelt daran, dass Ministerpräsident Putin, wenn er auf seinen früheren Posten zurückkehren will, die Wahl problemlos gewinnen würde - selbst wenn sein Zögling Medwedew als Konkurrent ins Rennen steigen sollte.
Einige russische Kommentatoren halten es angesichts von Putins aktivistisch inszenierter Präsenz im staatlich kontrollierten Fernsehen praktisch für ausgemacht, dass es den drahtigen Machtmenschen wieder zurück auf den Präsidentenstuhl drängt. Dort könnte er gemäss Verfassung für zwei weitere je sechsjährige Amtszeiten herrschen – also bis zum Jahr 2024 am Kreml-Ruder bleiben! Bei allem Verständnis für das Bedürfnis nach Stabilität in weiten Teilen der russischen Öffentlichkeit – für die Vitalität der russischen Demokratie und die dringend notwendige Modernisierung der russischen Wirtschaft wäre das ein schlechtes Omen. Die Zahl derjenigen Auguren, die bei diesem Szenario die russischen Zustände immer noch als halbvolles Glas einschätzen, dürfte dann deutlich abnehmen.
Bahnfahrt mit russischer Beschaulichkeit
Die Fahrt im Nachtzug von Moskau nach Saratow an der Wolga im Südosten des Landes dauert 15 Stunden. Solche Reisen im Schlafwagen durch die endlosen russischen Weiten kann man durchaus als Erholung für Körper, Auge und Gemüt vom aufreibenden Alltag in den städtischen Metropolen erleben. Man richtet sich im Trainings- oder Schlafanzug bequem in seinem Abteil ein, trinkt Tee, Bier oder andere Wasser, plaudert, liest oder widmet sich den mitfahrenden Kindern und bereitet sich in Ruhe für eine lange Schlafnacht vor. Nach zwei Stunden hält der Zug an irgendeiner Dorfstation für eine „Rauchpause“ an, geschäftige Frauen bieten auf dem Perron warme Pjelmeni (Teigtaschen) und andere Verpflegungen an. Zugfahrten dieser beschaulichen Art in Russland würde ich unter dem Prädikat „halbvolles Glas“ einreihen.
Weniger gemütlich und bequem ist die gut zweistündige Autofahrt von der Provinzmetropole Saratow an der Wolga zur Kleinstadt Wolsk. Die Strasse ist auf weite Strecken holprig und häufig mit halsbrecherischen Schlaglöchern versehen. In Wolsk (ca.70 000 Einwohner) sind nur die Hauptstrassen im Zentrum gepflastert, bei allen Nebenwegen bewegt man sich auf erdigen Trampelpfaden, staubig bei trockenem Wetter und matschiger Dreck bei Regengüssen. Es gibt einige architektonisch anspruchsvolle Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, aber die meisten Stadtbewohner leben in alten windschiefen Holzhäuschen hinter wackligen Bretterzäunen oder in dringend renovationsbedürftigen Plattenbauten aus der Chruschtschow-Zeit.
Eine Provinzstadt an der Wolga
Das einzige grössere Unternehmen im Umkreis von Wolsk ist eine noch zur Zarenzeit gebaute – und entsprechend vom ehrwürdigen Alter geprägte – Zementfabrik, die inzwischen vom schweizerischen Holcim-Konzern betrieben wird. Dieser hat auch die Renovation der grössten Kirche in der Stadt und eine neue Kinderklinik finanziert. Eine frühere Brauerei ist eingegangen. Träge fliesst die breite Wolga zwischen ihren unverbauten, aber auch von allerhand Abfall verunstalteten Ufern dahin. Auf den ersten Blick scheint die Zeit seit dem Niedergang der Sowjetunion in dieser Provinzecke stillgestanden. Von Aufbruchstimmung ist wenig zu spüren.
Doch auf den zweiten Blick hat sich doch dies und das verändert. Zum Beispiel gibt es in den einst chronisch leeren oder zumindest eintönig bestückten Lebensmittelläden nun eine recht breite und farbige Angebotspalette. Und wer will, kann heute ohne die einst unumgängliche obrigkeitliche Bewilligung ins Ausland reisen und sich über die dortigen Verhältnisse sein eigenes Bild machen – sofern er für solche Reisen das nötige Geld und hat und das von den meisten Ländern verlangte Visum bekommt.
Ob man die Zustände im heutigen Russland als halbvolles oder halbleeres Glas einschätzt, hängt eben vom Blickwinkel des Betrachters (und dem benutzten zeitlichen Vergleichsrahmen) ab.