Leserbriefspalten und Politiker aus dem rechten Spektrum sehen die Akzeptanz der Flüchtlingspräsenz am Boden. Der Kanton Aargau investiert 5 Millionen in zusätzliche Sicherheitsmassnahmen. Derweil sind sich Fachleute einig, dass weitere repressive Massnahmen die Situation verschlimmern werden. Gefordert sind neue Formen der Aufenthaltsgestaltung. Dazu gehören integrative Angebote; für alle Asylsuchenden - vor allem auch für jene, die in ihr Herkunftsland zurückkehren müssen.
ICH TREFFE oft auf Flüchtlinge, die bis zu fünf Jahre oder mehr auf den Asylentscheid warten. Wenn diese zu uns in den Verein Netzwerk Asyl kommen, sind sie oft wie abgelöscht, hilflos, passiv und ohne Selbstvertrauen. Man muss sie anfänglich aufwändig motivieren, an den angebotenen Aktivitäten teilzunehmen.
GANZ ANDERS die neu Eingereisten. Insbesondere die Jungen erlebe ich wie Schwämme. Sie sind begierig, von der neuen Welt zu lernen und saugen auf, was sie ihnen bietet. Sie sehen sich am Ziel angekommen und wollen ein neues Leben beginne. Doch in den langen Jahren, die die definitive Abklärung ihres Asylgesuches oft erfordert, verlieren sie diese Kraft. Sie verlernen, aktiv zu bleiben, übernehmen eine Opferrolle. Im Herkunftsland gehörten sie zu den besten Köpfen. Ihre Grossfamilie setzte Erwartungen in sie und investierte oft viel Geld in ihre Flucht nach Europa. Hier angekommen, bleibt diesen lebenstüchtigen Hoffnungsträgern oft jahrelang nichts anderes als das Herumhängen und das Anstehen in der Asylunterkunft für die Almosen, die die materielle Existenz sichern. Ihre Kompetenzen bleiben ungenutzt, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zerbricht, der Halt in den ethischen und kulturellen Werten geht verloren.
WENN DER NEGATIVE Asyl-Entscheid kommt – und der kommt für die meisten einmal - sind diese Menschen oft an einem Punkt angelangt, wo sie nichts mehr zu verlieren haben. Sie können nicht, ohne etwas erreicht zu haben, zurück ihn ihr Herkunftsland. «Ich kann mich mit leeren Händen in meiner Familie nicht mehr blicken lassen.» sagen sie öfters zu mir. Abgesehen davon, dass für viele die Rückkehr keine Option ist, weil sie die Gefahr, im Herkunftsland misshandelt oder gar umgebracht zu werden, anders einschätzen als die Schweizer Migrationsbehörden.
ALSO VERSUCHEN die Asylsuchenden, zu bleiben oder in ein anderes Land zu gehen. Auch wenn die Lebensbedingungen in Europa für sie immer härter werden – bis hin zum Verlust der Würde und des aufrechten Ganges. Da ist für einige die Schwelle nicht mehr hoch: zum Drogendealen und Diebstahl und zum Schwarzfahren sowieso nicht.
ANDERSEITS erhalten bis zu 30 Prozent der Asylsuchenden früher oder später das Recht, unbefristet oder «vorläufig aufgenommen » in der Schweiz bleiben zu können, weil sie im Herkunftsland bedroht sind oder eine Rückreise nicht zumutbar ist. Erfolgt dieser Entscheid nach einer jahrelangen Warteschlaufe, kommt er für eine soziale und berufliche Integration oft zu spät. Viele haben längst den Mut und den Biss verloren, für ihre raren Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu kämpfen. Jetzt, da sie von Integrationsmassnahmen profitieren könnten, sind sie kursresistent geworden und haben sich mit der Sozialhilfe arrangiert.
DESHALB SOLLEN Asylsuchende bereits nach ihrer Ankunft mit geeigneten Aktivitäten abgeholt werden. Sie sollen die Fähigkeit und den Wille erhalten können, anzupacken und sich zu integrieren , sei es hier oder zurückgekehrt im Herkunftsland. Die geforderte Reduktion auf ein absolutes Minimum finanzieller Nothilfe demütigt Menschen, die von üppigem Wohlstand umgeben sind. Aber es geht nicht nur um Franken und Rappen oder um die Gewährung von ein paar Deutschkursen, die ohnehin unzureichend sind, wenn den Flüchtlingen die Gelegenheit fehlt, das Deutsch zu praktizieren. Sie sollen verstehen, dass ihre Rolle in der weltweiten Migration nicht ihr persönliches Versagen, sondern Teil einer globalen, falschen Wirtschaftsentwicklung ist. Vielleicht lernen sie dabei auch, dass Migration grundsätzlich nicht die Lösung ist.
«GUTMENSCHEN» WIE MIR wird vorgeworfen, mit solchen Projekten die Schweiz als Einwanderungsland „noch attraktiver“ zu machen. Das Gegenteil ist zutreffend. Rückkehrer mit ungebrochenem Selbstvertrauen und mit der Kraft, etwas Neues anzupacken, vertrauen eher auf eine neue Chance im Herkunftsland und haben kein Bedürfnis, die in der Schweiz durchgestandene Flüchtlings-Situation aufzuhellen. Integrative Angebote machen die Schweiz nicht attraktiver, aber menschlicher und verständlicher! Es muss zu Begegnungen zwischen Fremden und „Einheimischen“ kommen, die die erlauben, die Situation auf der anderen Seit kennenzulernen. Die Bevölkerung muss vermehrt in die Aufnahme der Flüchtlinge eingebunden werden, wie damals bei den Menschen aus Ungarn oder Vietnam.
Rolf Geiser, pensionierter Sozialarbeiter, ist freiwilliger Mitarbeiter des Netzwerks Asyl Aargau. Der Verein organisiert Treffpunkte, Deutschunterricht und andere Angebote für Asylsuchende in Aarau, Muri, Nussbaumen, Rheinfelden und Zofingen. Geiser will im Aargau regelmässige Angebote für «Bildung, Begegnung und Beschäftigung» von Asylsuchenden lancieren. Einzelpersonen und Organisationen sollen für Flüchtlinge Aktivitäten organisieren, die einen Einblick in die Schweiz und eine Begegnung mit der Bevölkerung ermöglichen. Zum Beispiel die Besichtigung eines Bauernhofes, ein gemeinnütziger Arbeitseinsatz zusammen mit Pfadfindern, die Einladung zur 1.-August-Feier einer Gemeinde oder ein freundlicher Empfang auf einem Polizeiposten.