Nach mehrtägiger Unterbrechung wird am morgigen Dienstag in München der Prozess gegen die mutmassliche Helferin der mit Selbstmord geendeten mutmasslichen neonazistischen Serienmörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt sowie vier andere der Unterstützung Verdächtige fortgesetzt. Das Wort mutmasslich mag viele Menschen angesichts der zur Verhandlung anstehenden Taten irritieren. Aber auch für diese Angeklagten hat als eherner Grundsatz eines Rechtsstaats bis zur Verurteilung die Unschuldsvermutung zu gelten. Dies im Verfahren, mehr noch in der Öffentlichkeit immer wieder zu verdeutlichen, wird schwer fallen. Und es bedarf keiner besonderen seherischen Gaben, um vorherzusagen, dass bis zum Richterspruch noch häufig Aufregung, Protest und Unverständnis laut werden dürfte.
Einen Vorgeschmack darauf könnte es schon heute geben. Denn noch ist gar nicht sicher, dass der vorsitzende Richter, Manfred Götzl, die (man spricht von ungefähr 500 Seiten) Anklageschrift wird verlesen können. Zuvor nämlich wollen die Verteidiger der Hauptangeklagten weitere Anträge stellen. Im Grunde also hat der Prozess noch gar nicht wirklich begonnen. Die Öffentlichkeit erlebte im wesentlichen ein Mediengetöse und das bei grossen Strafverfahren ebenso übliche wie zulässige taktische Manövrieren der Verteidigung. Es sei daran erinnert, dass es bei dem Mammutprozess gegen die sogenannte Baader/Meinhof-Bande – also die Terroristen der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) – vor drei Jahrzehnten in Stuttgart-Stammheim gute fünf Monate dauerte, bis die Anklageschrift verlesen werden konnte.
Unter Beobachtung der ganzen Welt
Keine Frage: Diese Verhandlung vor dem OLG München hatte alles andere als einen guten Start. Daran trägt das Gericht selbst ein gerüttelt Mass an Verantwortung. Die völlig schief gelaufene Organisation um die Vergabe nationaler und internationaler Presseplätze spricht für sich. Denn – einmal abgesehen von dem Management-Dilettantismus – Götzl und seine Leute schienen lange nicht zu merken, dass es hier nicht um das Prestige oder die Herabsetzung einzelner Journalisten und Verlagshäuser ging (obwohl nicht wenige sich genau so gerierten), sondern um die Erkenntnis: Hier schaut die ganze Welt zu.
Und genau so ist es auch. Kaum ein Ereignis in jüngeren Jahren hat so viel internationale Aufmerksamkeit auf Deutschland gelenkt wie die rund ein Jahrzehnt lang währende Mordserie der «Zwickauer Zelle». Oder, um es auf den Punkt zu bringen: Es ist die Fassungslosigkeit über die Blindheit von Ermittlungs- und Verfolgungsbehörden gegenüber der politisch motivierten extremen Rechten, über die Fehler und Pannen bei und zwischen Polizei und Geheimdiensten und über den bisher nicht ausgeräumten Verdacht, dass staatliche Instanzen sogar bewusst das eine oder andere Auge zugedrückt hätten.
In diesem Zusammenhang hat vor ein paar Tagen eine deutsche Zeitung getitelt: «Als sässe ganz Deutschland auf der Anklagebank». Daran ist nicht nur ein Körnchen, sondern schon ein Korn Wahrheit. Das gegenwärtig Verfahren vor dem Münchener Oberlandesgericht ist – genau besehen – der dritte grosse Prozess in Nachkriegsdeutschland unter deutscher Regie. Auch wenn der türkisch-stämmige Berliner Anwalt Mehmet Daimagüler in der New York Times die Bedeutung des jetzigen Rechtsfalls mit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen vergleicht – so stimmt der Vergleich hinten und vorne nicht. Und auch wenn man den abwertenden Beiklang beim Begriff Siegerjustiz nicht akzeptiert, so stellte «Nürnberg» doch etwas ganz anderes dar. Vergleichbar dagegen waren der grosse Ausschwitz-Prozess in der ersten Hälfte der 60-er Jahre in Frankfurt und die juristische Aufarbeitung des RAF-Terrors rund zwei Jahrzehnte später.
«Politische» Verfahren
Gibt es vielleicht sogar so etwas wie innere Zusammenhänge zwischen den drei Ereignissen? Der Frankfurter Ausschwitz-Prozess fand erst fast zwanzig Jahre nach Kriegsende statt. Bis dahin konnten sich viele Täter (soweit sie nicht z. B. in Südamerika Unterschlupf gefunden hatten) ganz gut in Deutschland-West sicher fühlen. Der grösste Teil der Bevölkerung hatte sich in den Wiederaufbau und die Lebenssicherung gestürzt oder wollte möglichst vergessen und verdrängen. Nach dem Frankfurter Prozess jedoch konnten die Deutschen nicht mehr die Augen vor der Wahrheit verschliessen.
Im Deutschen Bundestag wurde nach intensiven und ernsthaften Debatten beschlossen, dass Mord nicht mehr verjährt. Und in vielen Familien wurden den Eltern und Grosseltern von den Heranwachsenden unangenehme, bohrende Fragen gestellt. Nicht wenige Junge waren empört über die Vergangenheit der Altvorderen. Und wiederum nicht wenige davon liessen sich von dieser Empörung aus der Bahn tragen. Stuttgart-Stammheim steht als düsteres Symbol für dieses Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Aber wo ist der Zusammenhang zu den Mordbrennern auf der äussersten Rechten? Natürlich wäre es viel zu einfach zu behaupten, die jungen (warum sagt man eigentlich immer «neo», als ob sie eine andere Saat wären als die alten?) Nazis wären halt die Gegenbewegung zu den einstigen Linksterroristen. Aber bestimmte Berührungspunkte gibt es eben doch. Beide haben nie ein Hehl aus ihrem Hass gegen «das System» gemacht – was immer auch darunter verstanden werden mag. Und für beide gab es in diesem Hass keine Grenze. Gewalt galt und gilt ihnen als erlaubt, bis hin zur tödlichen Konsequenz. Die heutigen Rechtsaussen unterscheiden sich in diesem Punkt auch überhaupt nicht von ihren historischen Vorbildern. Verhasst ist alles und jedes, das irgendwie anders ist: Hautfarbe, Sprache, Aussehen… Acht der zehn Opfer von Mundlos und Böhnhardt waren Türken. Gewiss kein Zufall.
«Sie sind einfach vergessen worden»
Das alles war auch den Sicherheitskräften bekannt. Und dennoch konnte die «Zwickauer Zelle» mehr als zehn Jahre ungeschoren ihre Verbrechen verüben. Ungeachtet aller Untersuchungsausschüsse von Bundestag und diversen Landtagen ist bis heute nicht nachvollziehbar erklärt worden, wie das geschehen konnte. Klar, Pannen und Schlampereien gibt es überall. Und Eifersüchteleien zwischen Behörden auch. Oder könnte es denn wirklich so einfach gewesen sein, wie es vor wenigen Tagen bei einer Diskussion in Köln der frühere Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, selbst erkennbar fassungslos, sagte: «Sie sind einfach vergessen worden.» – Einfach vergessen! Nazistische Aktivisten, lange schon der Polizei in Thüringen bekannt, tauchen 1998 ab, werden noch drei Jahre lang so nebenbei gesucht und verschwinden dann völlig vom Radarschirm der Behörden…
Die wahrscheinlichen Haupttäter, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, können nicht mehr aussagen. Sie haben im Herbst 2011, nach einem missglückten Überfall auf eine Bank, Selbstmord in einem Wohnmobil verübt. Trotzdem wird vom Gericht in München erwartet, erstens die Wahrheit an den Tag zu bringen und ausserdem dann auch noch Recht zu sprechen. Recht aber muss, wie jeder weiss, nicht als richtig und schon gar nicht als Gerechtigkeit empfunden werden. Vor allem nicht von den Angehörigen der Mordopfer, die zahlreich (und mit Nebenklägern) im Gerichtssaal vertreten sind. Und der Richterspruch wird noch lange auf sich warten lassen. Wahrscheinlich glaubt auch der Vorsitzende nicht mehr, dass er den früher einmal angepeilten Zeitplan bis Januar 2014 wird einhalten können. Die immer lauter geäusserte Vermutung, das Verfahren werde sich über mindestens zwei Jahre hinziehen, könnte durchaus Realität werden.