Der demnächst 87-jährige Peruaner Mario Vargas Llosa mag ein grossartiger Romancier sein. Er gewann 2010 den Nobelpreis und wurde im vergangenen Monat in die Académie française aufgenommen. Vargas Llosa schreibt auch politische Texte. Das sollte er lieber sein lassen.
Die Zahl der sehr armen Peruanerinnen und Peruaner ist in den letzten Jahren wieder stark gestiegen. Die Slums wachsen wieder. Ein Drittel der Bevölkerung lebt unter der Armutsquote. Drei Viertel der peruanischen Arbeitskräfte sind vertraglich nicht abgesichert. Die meisten sind Tagelöhner und leben von der Hand in den Mund.
Nach wie vor gross sind die regionalen Unterschiede. Im peruanischen Hochland, in den Anden, und in der Selva, dem Amazonasbecken, ist die Armut besonders gross. Während in der Küstenregion in den ersten Jahren dieses Jahrtausends die Wirtschaft florierte, gelten das Hochland und die Amazonas-Region als «vergessenes Gebiet». Die wichtigen Rohstoffe, die Peru besitzt, Eisenerze, Phosphate, Kupfer, Gold, Erdöl werden von ausländischen Firmen abgebaut. Selbst die Fischmehlindustrie wird fast vollständig von den Chinesen dominiert. Einige Reiche an der Küste, die die Wirtschaft dominieren, erhalten dafür Anteile; die Armen gehen leer aus.
Keiko Fujimori, die 47-jährige Tochter des früheren, inzwischen festgenommenen, korrupten Diktators Alberto Fujimori, steht für dieses System – ein System, das sich kaum um die verarmten Menschen und die teils archaischen Strukturen des Hochlandes kümmert.
Bei den Präsidentschaftswahlen im vorletzten Jahr ist Keiko Fujimori dem linksgerichteten Kandidaten Pedro Castillo, einem Dorfschullehrer, überraschend unterlegen. Dies war umso erstaunlicher, als die gesamte Wirtschaft und die beiden grossen Zeitungen des Landes, El Comercio und La República, die zwei Oligarchen-Familien gehören, eine pausenlose, aggressive Kampagne gegen Castillo führten.
Dass Castillo dennoch gewann, wenn auch äusserst knapp, ist Ausdruck der Verzweiflung, die in den verarmten Bevölkerungsschichten herrscht. «Nur nicht schon wieder eine Vertreterin der reichen Oberschicht, die uns vergisst!» dachten viele. «Dass doch endlich einmal Massnahmen zur Verbesserung unseres Lebens ergriffen werden!»
So wurde denn der national völlig unerfahrene Lehrer und Gewerkschaftsfunktionär Pedro Castillo zum Präsidenten gewählt. Er war Vertreter einer Splitterpartei, die sich «marxistisch» nannte, obwohl ihr Programm ein klassisch sozialdemokratisches ist.
Es kam, wie es kommen musste. Castillo war überfordert. Die rechtsgerichtete Opposition legte ihm Steine in den Weg, wo sie nur konnte. Castillo hatte nie wirklich regieren können. Einflussreiche Kreise des korrupten Kongresses führten eine eigentliche Blockadepolitik. Castillo legte über 70 Gesetzesvorschläge zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen vor. Alle wurden vom Parlament abgeschmettert. Die Opposition machte ihm das Leben so schwer, dass er immer hilfloser wurde. 86 Minister wechselte er innerhalb eines knappen Jahres aus. Unterstützt wurde die Opposition vom Polizei- und Justizapparat.
Dann, bevor er des Amtes enthoben wurde, tat er das, was sich die Opposition nur wünschen konnte: Er löste das Parlament auf und wollte per Dekret regieren. Das war zu viel. Er wurde gestürzt und flüchtete nach Mexiko. Ihm fehlten die Erfahrung, ein Beziehungsnetz, die Kraft und die Unterstützung einer Mehrheit des Parlaments. Vor allem im Süden des Landes brachen Castillo-freundliche Tumulte aus, die noch andauern und die Dutzende Todesopfer forderten.
Man soll eben «das Regieren nicht einem Dorfschullehrer» überlassen, schrieb nun Vargas Llosa in einer seiner politischen Kolumnen. Er habe seine Landsleute aufgefordert, für Keiko Fujimori zu stimmen.
Vargas Llosa hat recht, wenn er schreibt, Castillo sei für dieses Amt ungeeignet gewesen. Aber merkt er, der Peruaner, denn nicht, weshalb Castillo gewählt wurde: weil die Verarmten endlich einen Ausweg aus ihrer Not suchten. Weil die Erfahrung sie lehrte, dass sie mit einer Vertreterin der weissen Oberschicht wieder einmal zu kurz kämen. Weil sie wussten, dass sich mit einer Keiko Fujimori nichts ändert an ihrer Armut, ihrer Hoffnungslosigkeit. Die Wahl Castillos geschah aus einer tiefen Depression heraus. Von der korrupten Oligarchie, die über Jahrzehnte das soziale Gefälle im Land zementierte, hört man bei Vargas Llosa kein Wort.
Von einem hochgejubelten Nobelpreisträger, der sich so intellektuell, einfühlsam und menschenfreundlich gibt, hätte man eine weniger plumpe und differenziertere Analyse zu den Ereignissen in seinem Heimatland erwartet.
Und trotzdem erstaunt seine Einschätzung nicht. Vargas Llosa, einst ein linker Rebell, ist immer mehr nach rechts abgerutscht, nach sehr rechts. Zu seinen Freunden gehören manche rechtsradikale Politiker, unter anderem der frühere kolumbianische Präsident Álvaro Uribe Vélez. Zudem hatte Vargas Llosa bei den vorletztjährigen Präsidentschaftswahlen in Chile José Antonio Kast unterstützt. Er gilt als rechtspopulistisch, rechtsextrem und neofaschistisch. In der französischen Zeitung «Libération» werfen fünf Wissenschaftler Vargas Llosa «offene Sympathien für lateinamerikanische Rechtspopulisten» vor.
Die deutsche Literaturwissenschaftlerin, Verlagsdirektorin und Literaturvermittlerin Michi Strausfeld, die Vargas Llosa persönlich kennt, sagt: Vargas Llosas Beiträge über Literatur seien aufschlussreich. «Aber die politischen Artikel machen wirklich Ärger.»