Vertreterinnen und Vertreter mutiger Gruppierungen mit zukunftsgerichteten Strategien werden zulegen; solche vergangenheitsgeprägter Bewahrer eines nostalgischen „Erfolgsmodells“ Schweiz werden entsprechend verlieren.
Wer in den letzten vier Jahren den Eindruck hatte, die politischen Parteien vertrödelten mehr Zeit mit kleinkarierten Grabenkämpfen gegeneinander als mit dringend nötigen konstruktiven Kooperationsprojekten miteinander – er/sie hat sich nicht getäuscht. Doch, so unsere Hoffnung, unergiebige Kämpfe, das war einmal! Wer die Schweiz weiterbringen will, muss sich zusammenraufen mit zukunftstauglichen Reformideen. Neue Kräfte, die das begriffen haben, werden punkten bei diesen Wahlen.
Damals und heute
Seit 1919 wählen wir die Nationalratsmitglieder nach dem Proporz-System. Seither können auch kleinere Parteien den Einzug ins Parlament schaffen. Damals prägte besonders ein Plakat den Wahlkampf: „Gegen den Bolschewismus“. Heute wäre etwa folgendes Plakat denkbar: „Gegen den Populismus“. 100 Jahre Verhältniswahl: Ob da wohl – zum Jubiläum – eine kleinere Partei der grössten im Land die Show stehlen wird?
„Weniger ist mehr“ – „Mehr ist weniger“?
Mehr Kandidierende, mehr Listen, die bevorstehenden Wahlen in den Nationalrat scheinen rekordverdächtig. Von einer Listenschwemme ist die Rede. Begnügten sich die politischen Kräfte vor 20 Jahren noch mit 268 Listen, waren es 2015 stattliche 422 – dieses Jahr dürften es deutlich mehr sein: 4652 Kandidierende, + ~17%.
„Weniger ist mehr“ gilt hoffentlich nicht für die Nationalratswahlen. Das geflügelte Wort suggeriert ja, dass weniger besser sei als mehr und dass sinngemäss einfache Lösungen komplizierten überlegen wären. Dass in der neuen Legislatur die eidgenössische Politik einfacher werde, ist nicht zu erwarten. Längst ist Albert Einsteins Rat in Vergessenheit geraten: „Mache die Dinge so einfach wie möglich – aber nicht einfacher!“
Schweizer Werte
Im Vergleich zu den USA und Grossbritannien mit ihren krankhaften, politischen Leaderfiguren, den Egomanen Trump und Johnson, können wir uns tatsächlich „von“ schreiben. Noch funktioniert unsere Demokratie, noch lassen sich die politischen Resultate sehen. Wenn auch bei uns alles etwas daran krankt, dass die Vergangenheit zu viel verwaltet und die Zukunft zu wenig gestaltet wird.
Schweizerinnen und Schweizer halten diese Werte hoch: Freiheit und Sicherheit, diese werden nicht durch die grösste Volkspartei versprochen, sondern sie widerspiegeln sich in der jahrhundertealten Tradition gelebter föderalistischer Politik des unspektakulären Alltags. Ebenso lang ist unser Land gut damit gefahren, mit unseren Nachbarn in Europa zu kooperieren. Somit wird das Erfolgsmodell unseres Landes nicht von populistischen Schwadronierern garantiert, sondern vom pragmatisch denkenden, zeitgemäss handelnden und illusionslos politisierenden Frauen und Männern. Am 20. Oktober 2019 durch Sie gewählt, liebe Leserin, lieber Leser.
Der gesellschaftliche Wandel „made in Switzerland“
Gemäss Smartvote-Daten werden diese Wahlen von neuen gesellschaftlichen Trends beeinflusst. Offensichtlich setzt sich die lange verdrängte Meinung immer gebieterischer durch: der Frauenanteil in Politik und Wirtschaft muss erhöht werden. Nicht wegen Quoten, sondern weil Frauen – Erfahrungen bestätigen es – neue, andere und wertvolle Kriterien einbringen und damit die Resultate auch aus nachhaltiger Sicht verbessern.
Die spektakulärste Wende ist bei der Einschätzung zum Klima auszumachen. Nur noch eine schwindende Gruppe ist als Klimaleugner einzustufen. Dass mit dieser Trendwende auch der politische Dringlichkeits-Fahrplan in Bern neue Zielrichtungen erhält, wird sich nach den Wahlen offenbaren.
Uralte Gewissheiten, nicht wirklich hinterfragte Rituale und „Das war doch immer so“-Denken werden durch die sich verjüngende Politszene in Bern aufgemischt: Elternurlaub, Drogenpolitik, ja sogar das Ausländerstimmrecht auf kommunaler Ebene sind die neuen Themen.
Die neuen „Player“
„Chancenland Schweiz“ nennt die Operation Libero – keine traditionelle Partei, sondern eine Bewegung – ihre aktive Einmischung in den politischen Alltag in Bern. Nicht die parteipolitische Überzeugung ist ausschlaggebend, wen die OL unterstützt, (z. B. Laura Zimmermann), sondern die persönliche, freiheitlich geprägte Motivation der Kandidierenden, unser Land in eine liberale Zukunft innerhalb Europas zu führen, ohne ausnahmslos der Parteizentrale folgen zu müssen.
Unverwechselbar tritt aus den Reihen der Grünliberalen Nicola Forster („Fliege nach Bern“) in den Nationalrats-Wahlkampf. Seine offensichtlichen Markenzeichen sind zwar Frisur und Fliege, doch was ihn prägt, ist der Wunsch nach politischem Wandel, er will „die Schweiz bewegen“. Als Gründer und Präsident von „foraus“ (Forum für Aussenpolitik) hat er sich seit zehn Jahren aktiv bewährt – er fordert die Jungen dieses Landes auf zur „Mitmachpolitik“.
Ganz allgemein sind Frauenlisten auf dem Vormarsch. Im Kanton Zürich sind, als Beispiel, 43 Prozent aller Kandidierenden Frauen (CH: 40%). Zum Vergleich: Bei den letzten Wahlen waren es nur 35 Prozent. Es zeigen sich aber grosse Unterschiede zwischen den Listen. Ausserdem ist die Chance gestiegen, dass auch tatsächlich mehr Frauen gewählt werden. Die Frauen sind auf den Listen besser platziert als bei den Nationalratswahlen 2015.
Links oder rechts – altmodische Politologensprache
Noch immer dominieren bei Wahlprognosen und -kommentaren die Begriffe Linksrutsch oder Rechtsbündnis. Offensichtlich sind diese überholten Zuordnungen links/rechts nicht auszurotten – weil es eben einfacher ist mit diesem Schwar/Weiss-Image zu operieren, als mit einem Raster, der dem individuellen Verhalten der Menschen Rechnung trägt. Die weitaus meisten Stimmberechtigten ticken weder links, noch rechts. Der moderne Mensch ist bei gewissen Anliegen liberal und gleichzeitig bei anderen pro staatliche Regelung denkend. Er widerspiegelt das neue Empfinden, dass der freie Markt eben nicht alles regeln kann. Doch gleichzeitig wissen dieselben Leute, dass überbordende staatliche Eingriffe sozialistischer/kommunistischer Prägung sich in der Vergangenheit überhaupt nicht bewährt haben.