Philosophen sind nicht unbedingt Phytosophen: Freunde der Pflanze. Sie räumten und räumen ihr eine unter- oder nebengeordnete Rolle in ihren Argumenten und Systemen ein. Bestenfalls dient die Pflanze als Metaphernlieferantin mit ihrem vielgestaltigen Keimen, Wachsen, Blühen, Verwurzeln, Verzweigen, Früchtetragen, Verwelken, Verfallen, Verdorren – metaphorisches Beigemüse eben.
Oder sie bildet eine „grüne“ Kulisse für gedankliche Elaborationen und Dialoge; auch als Trösterin wirkt sie ab und an, zum Beispiel bei Rousseau, der die Botanik als eine Art von „therapierender“ Wissenschaft pflegte. Nicht zu vergessen die Nützlichkeitsperspektive, etwa bei Avicenna, welcher der kurativen Seite der Pflanze in sein Monumentalwerk „Kanon der Medizin“ gehörige Aufmerksamkeit schenkte.
In einem Vortrag über Ethik im Jahre 1989 überraschte die britische Philosophin Philippa Foot ihre Zuhörerschaft mit der Bemerkung, dass es in der Diskussion um Tugenden und Laster wichtig sei, über Pflanzen nachzudenken. Das grenzte zumindest in philosophischen Kreisen an Ketzerei, denn Frau Foot rüttelte damit an den Grundfesten moderner Moralauffassung. So galt schon fast als kanonisch, dass Ethik und Natur voneinander zu trennen sind. Es gibt – mit Kant gesprochen – Natur als das Reich der Notwendigkeit und Ethik als Reich der Freiheit. Letzteres ist dem Menschen vorbehalten. Ethik hat in der Natur nichts zu suchen.
Warum ist die Tulpe schön?
Nun erweist sich gerade Kants Moralphilosophie als geeignete Plattform für die moderne Umweltethik, und dies ausgerechnet deshalb, weil sie eine ethische Sicht auf aussermenschliches Leben – schon fast schmerzlich – vermissen lässt. Es ist insbesondere höchst aufschlussreich und reizvoll, Kants Denken am Beispiel einer einzigen Pflanzenart zu testen, die der Philosoph offenbar sehr schätzte: der Tulpe. Er bewunderte sie nicht zuletzt deshalb, weil sie eine nüchterne, klare Schönheit ausstrahlt. Sie ziert sozusagen als Emblemblume sein philosophisches System (obwohl sie ironischerweise letztlich darin nicht Platz fand).
Wir halten die Tulpe für schön, so Kant, weil wir sie ohne Blick auf ihren Nutzen – therapeutischen, nährtechnischen, ökologischen, ökonomischen – wahrnehmen. Sie hat eine ästhetische Würde. Wir sehen zudem in Pflanzen eine Naturzweckmässigkeit wirken, die wir nicht erklären können. Es gibt, nach dem berühmten Wort Kants, keinen Newton des Grashalms. Und dennoch erregen und verdienen sie unsere Bewunderung. Pflanzen sind in ihrer Unbegriffenheit zu bewundern. Man kann das Paradox wagen: Pflanzen sind schön, weil sie (von Natur aus) zweckmässig ohne Zweck (für uns) sind. Eine Tulpe ist eine Tulpe ist eine Tulpe.
Ästhetische Würde heisst nicht ethische Würde
Aber aus der ästhetischen Würde der Tulpe folgt nicht die ethische. Kant gesteht den Pflanzen durchaus eine moralisch erbauliche Funktion zu. Er spricht von der „Stimmung der Sittlichkeit, welche die Moralität sehr befördert, wenigstens dazu vorbereitet, nämlich auch etwas ohne Absicht auf Nutzen zu lieben z. B. (...) das unbeschreiblich Schöne des Gewächsreichs“. Aber all dies erfolgt, wie Kant sagt, „in Ansehung“ von Tier und Pflanze. „In Ansehung“ heisst noch nicht „direkt Tier und Pflanze gegenüber“.
Kant ging es letztlich allein um den Menschen, nur indirekt um die anderen Lebenwesen. Achtung vor der Pflanze ist für ihn menschliche Selbstachtung. Zerstörung der schönen Pflanze ist „der Pflicht des Menschen gegen sich selbst zuwider“. Der Mensch beweist also sich selber seine moralische Superiorität über die Pflanze, indem er sie schützt. Er achtet in der Pflanze nur sich selbst.
Ethischer Anthropozentrismus
Und genau hier liegt das Problem: im ethischen Anthropozentrismus. Schützenswert heisst nicht achtenswert. Achtung bedeutet eine moralische Haltung gegenüber Personen. Tiere und Pflanzen sind aber gemäss Kant nicht Personen, sondern Sachen. Und „Achtung geht jederzeit nur auf Personen, niemals auf Sachen. Die letzteren können Neigung, und wenn es Tiere sind (z. B. Pferde, Hunde) sogar Liebe oder auch Furcht, wie das Meer, ein Vulkan, ein Raubtier, niemals aber Achtung in uns erwecken. Etwas, was diesem Gefühl schon näher tritt, ist Bewunderung, und diese (...) kann auch auf Sachen gehen, z. B. hohe Berge, die Grösse, Menge und Weite der Weltkörper (...) usw. Aber all dies ist nicht Achtung. Ein Mensch kann mir auch ein Gegenstand der Liebe, der Furcht oder der Bewunderung (...) und doch darum kein Gegenstand der Achtung sein.“
Weder Sache noch Person
An dieser Stelle bricht das fundamentale Paradox auf. Obwohl Kant die Tulpe bewundert, als ästhetisches Objekt aus dem Kontext ihrer blossen organischen Stofflichkeit und praktischen Nutzbarkeit hebt, bleibt sie für ihn wissenschaftlich gesehen nur vegetative Materie, „zur Fortpflanzung organisierter, aber empfindungsloser (...) Teil der Natur“. Das ist falsch. Schon zu Lebzeiten Kants wiesen Naturforscher, namentlich Albrecht von Haller und Alexander von Humboldt, auf die Irritabilität und Sensibilität der Pflanzen hin. Und aus der modernen Pflanzenwissenschaft hören wir zunehmend von verblüffenden Fähigkeiten im Reich des Vegetativen: Tabakpflanzen, die Duftstoffe als „Hilferufe“ aussenden, um Feinde der sie befallenden Raupen anzuziehen; Erbsen, die in Dürrestress geraten, ihre Nachbarn „warnen“; Tomaten, die als Reaktion auf das Anfressen ihrer Blätter hormonähnliche Substanzen freisetzen, ähnlich zu menschlichen Gewebehormonen, die bei Entzündungen in Aktion treten.
Pflanzen weisen ein erstaunlich vielfältiges Sensibilitätsspektrum auf; sie haben unter anderem einen Feuchtigkeits-, einen Gravitations-, Elektromagnetismus-, einen chemischen Sinn. Natürlich lässt sich nur in höchst metaphorischem Sinn sagen, eine Pflanze würde „empfinden“. Aber sie ist weder Sache noch Person. Was ist sie dann? Wie soll man sie behandeln? Kant stand keine dritte Kategorie zur Verfügung, die ihm erlaubt hätte, die Pflanze als Naturding dennoch in den Gesichtskreis einer Naturethik hereinzuholen – sie also in seinem Sinn zu „achten“, wie wir auch Personen achten. Können wir das heute?
Das Natursubjekt Pflanze
Ja, wir können. Seit über vier Dekaden – präziser seit Christopher Stones wegweisender Studie „Haben Bäume Rechte?“ (1972) – existiert ein bioethischer Diskurs, in dem der Pflanze ein Rechtsstatus als schützenswertes Lebewesen zugestanden wird. Aber so wichtig und dringlich dieser juristische Rahmen auch ist, er genügt nicht. Das Umdenken muss auf naturphilosophischem Niveau geschehen.
Man könnte das „Dritte“, das Kant fehlte – weder Sache noch Person zu sein – , darin sehen, dass wir der Pflanze eine Subjektivität zubilligen. Neu ist das keineswegs. Mit fast einem Jahrhundert Verspätung beginnen die Lebenswissenschaften die „Rolle des Subjekts in der Biologie“ zu entdecken, um mit dem grossen Pionier der Ökologie, Jakob von Uexküll, zu sprechen. Lebewesen sind subjektive Zentren ihrer Merk- und Wirkwelten.
Nun ist damit selbstverständlich nicht das gemeint, was wir beim Menschen antreffen, das bewusste, intentionale, reflexive, personale Subjekt des Handelns, sondern etwas viel Bescheideneres. Wir räumen der Pflanze einfach „a priori“ eine eigene, artspezifische Position in ihrem Leben ein, was die Wissenschaft auch immer noch „a posteriori“ an Genetischem, Physiologischem, Kognitivem – an „Sachlichem“ – über sie herausfindet. In der Subjektivität entdecken wir nicht etwas Neues an der Pflanze, wir stellen uns vielmehr neu auf sie ein. Wir kennen das aus der Psychologie, vom Gestaltwandel bei Kippfiguren her, zum Beispiel einem Entenhasen: Plötzlich erscheint uns der Hase als Ente oder umgekehrt. Plötzlich erscheint uns die Pflanze nicht bloss als biologischer Automat, sondern als Subjekt ihrer artspezifischen Lebensvollzüge.
Eine „kopernikanische Revolution“ im Denken über die Pflanze
Was man füglich als eine „kopernikanische Revolution“ im Denken über die Pflanze bezeichnen könnte. Wir Menschen sind nicht die einzigen Subjekte in der Welt, es gibt andere, animalische und botanische. Das muss nun nicht unbedingt zu einem „grünen“ Sentimentalismus oder gar Spiritualismus führen. Aber wenn uns Kant und die Tulpe etwas lehren, dann dies: Wo wir es mit Lebewesen zu tun haben, haben wir es nicht mit einer blossen „res extensa“ zu tun, einer Welt der organischen „Sachen“ oder Automaten; wir haben es mit einer „mens extensa“ zu tun, einem Wunderkabinett voller Wesen mit ihren spezifischen mentalen Lebensweisen – seien sie nun angewurzelt oder nicht. Darin muss der Mensch sich neu verorten. Und er tut gut daran, falls er den vitalen Haushalt des Planeten à jour halten will.
Der Kampf um die Achtung oder die „Befreiung der Pflanze“ wäre so gesehen letztlich ein Kampf um die Befreiung unserer selbst von der Metapher des organischen Automaten, das heisst von einem ausschliesslich molekularbiologischen, gentechnischen und wirtschaftsdiktierten Tunnelblick auf alles Lebende. In den Gesichtskreis dieses Blicks geraten eher früher als später auch wir selber. Und dann ist Schluss mit lustig.