Der Philosoph Bryan Van Norden findet das ziemlich anstössig. Deshalb stellte er kürzlich in der „New York Times“ die grosskalibrige These auf: Ignoranten und Dummköpfe haben kein Recht auf Zuhörerschaft. [1] Und damit stach er natürlich in ein philosophisches Wespennest.
Das Prinzip Affront
Van Norden beginnt seinen Artikel mit zwei rezenten Beispielen. Die ultrarechte amerikanische Kolumnistin und selbsternannte „Polemikerin“ Ann Coulter behauptete, dass weinende Migrantenkinder, die von ihren Eltern getrennt wurden, „Kinderschauspieler“ seien. Oder Jordan Peterson, kanadischer Psychologieprofessor und Fan des Maskulinen, gab von sich, dass die „untergründige physische Bedrohung“ im Gespräch zwischen Männern einen „gewissen Grad an Zivilisiertheit“ gewähren würde. Deshalb hätten Männer „absolut keinen Respekt“ vor „verrückten Frauen“, weil sie sie nicht physisch bekämpfen können.
Es regiert das Prinzip Affront. Für wie dumm oder hanebüchen man solche Meinungen hält, faktisch kursieren sie, und sie werden vielerorts gleich ernst genommen wie empirisch gefestigte Meinungen. Und man möchte Van Nordens These instinktiv gern zustimmen. Es geht hier aber nicht um die Tatsache, dass solche Meinungen geäussert werden, sondern um das Recht, sie zu äussern.
John Stuart Mills „Spielregeln“
Dieses Problem wirft uns – philosophisch gesehen – um mehr als 150 Jahre zurück, mitten in die klassische Debatte liberalen Denkens – zurück zu John Stuart Mills bahnbrechender Schrift „Über Freiheit“ (1859). Im Zentrum steht die Freiheit der individuellen Meinungsäusserung, ungeachtet des Inhalts, der Wahrheit oder Falschheit. Das ist natürlich in einer Zeit, da sich der Unterschied zwischen Wahrheit und Falschheit angeblich aufzulösen droht, höchst brisant, und es lohnt sich deshalb, kurz auf Mills Argumentation einzugehen. Sie lässt sich in vier Gründen resümieren, warum man auch die abwegigste Meinung zulassen sollte.
Die Geschichte zeigt immer wieder, dass sogenannte Irrmeinungen sich letzlich doch als wahr erweisen: „Wenn irgendeine Meinung zum Schweigen gezwungen ist, kann diese Meinung (...) wahr sein. Das leugnen, heisst unsere eigene Unfehlbarkeit annehmen.“
Wenn eine Meinung sich als wirklich falsch erwiesen hat, dann ist eine „Auseinandersetzung mit dem Irrtum für eine klare Erfassung und ein tieferes Empfinden (der) Wahrheit unentbehrlich“.
Die schlichte Wahr-Falsch-Dichotomie ist eine Idealisierung. Die „ganze“ Wahrheit kennt niemand. Viel häufiger ist an einer falschen Meinung immer „etwas Wahres“ dran, und an einer wahren „etwas Falsches“.
Es gibt keine absolute Entscheidungsinstanz, welche Meinungen zulässt oder verbietet.
Erschwerung des Zugangs zu öffentlichen Plattformen
Man kann in diesen vier Punkten so etwas wie Spielregeln kritisch-liberalen Denkens sehen. Van Norden lehnt sie ab, weil sie seiner Ansicht nach einen Freipass für Bullshitter abgeben. Und er empfiehlt als Gegenmassnahme nicht gerade eine Zensur, aber doch immerhin eine Erschwerung des Zugangs zu öffentlichen Plattformen: „Zugang zur Öffentlichkeit, den Institutionen wie Fernsehen, Zeitungen, Magazine und Vorlesungen gewähren, ist eine begrenzte Ressource. Gerechtigkeit verlangt deshalb, dass dieser Zugang – wie bei jedem begrenzten Gut – nach Massgabe der Verdienste und des Beitrags zum Wohle der Gemeinschaft verteilt werden sollte.“
Aber Van Norden Lösung stellt sich als verkappte Version des Problems heraus. Die zentrale Frage lautet ja: Wer ernennt die Beurteiler von „Verdiensten“ und „Beiträgen zum Wohle der Gemeinschaft“? Mit welchen Gründen? Im Namen welcher „Gerechtigkeit“? Selbstverständlich gibt es in den Medien immer wieder flagrante Fälle entgleister Meinungsäusserungen, denen man deutlich die rote Karte zeigen kann. Aber wer oder was legitimiert das Zeigen dieser Karte? Wer wacht über die „begrenzten Ressourcen“ des Zugangs, wenn nicht häufig jene Leute, die zufälligerweise gerade die Macht besitzen, sie zu kontrollieren: Medienmogule, öffentlich-rechtliche Intendanten, Chefredaktoren, Universitätsvorsteher? Wenn man die Millschen Spielregeln oder ähnliche Standards ablehnt, folgt letztlich, dass alle Einschätzungen im Grunde willkürlich sind. Am Ende winkt die Hegemonie der Besserwisser.
Vielleicht bringt der Unterschied zwischen negativen und positiven Rechten etwas Kontur in die Debatte. Ich habe ein negatives Recht, meine Meinung frei zu äussern; niemand kann mich daran hindern. Aber ich habe kein positives Recht auf eine entsprechende Plattform. Und hier liegt der Hase im Pfeffer. Du kannst dich de jure frei äussern, aber de facto sorgen wir bei den einschlägigen Stellen schon dafür, dass dir niemand zuhört. Statt Verbot der Meinungsäusserung Zuhörerentzug.
Repressive Toleranz
Negative Rechte tolerieren und positive unterdrücken. Exakt dafür prägte Herbert Marcuse vor über fünfzig Jahren den Begriff „repressive Toleranz“. Er diagnostizierte ganz scharf eine Tendenz, die sich bis heute stetig verstärkt hat: „In der Überflussgesellschaft herscht Diskussion im Überfluss, und im etablierten Rahmen ist sie weitgehend toleriert. Alle Standpunkte lassen sich vernehmen (...) Ferner wird bei den Debatten in den Massenmedien die dumme Meinung mit demselben Respekt behandelt wie die intelligente, der Ununterrichtete darf ebenso lange reden wie der Unterrichtete (...) Diese reine Toleranz von Sinn und Unsinn wird durch das demokratische Argument gerechtfertigt, dass niemand, ob Gruppe oder Individuum, im Besitz der Wahrheit (...) wäre.“
Der abwertende Beiklang im „demokratischen Argument“ ist bei Marcuse nicht zu überhören, weil nach seiner These der „demokratische Prozess“ in modernen Gesellschaften sowieso serbelt. Marcuse versteigt sich sogar zum Begriff der „totalitären Demokratie“ – quasi ein Ableger der Tocquevillschen „Tyrannei der Mehrheit“. Und mit einer stupenden logischen Volte rechtfertigt er nun seinerseits repressive Massnahmen zur Errichtung einer „befriedeten“ Demokratie. „Befreiende Toleranz würde (...) Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts bedeuten.“ „Wahre Befriedung (erfordert), dass die Toleranz vor der Tat entzogen werde: auf der Stufe der Kommunikation in Wort, Druck und Bild.“ Im Klartext: Aufhebung der Meinungsäusserungsfreiheit für Rechte. Und wer bestimmt, wer rechts ist?
Eine Neuralgie der liberalen Demokratie
Van Nordens These ist symptomatisch für eine beunruhigende Neuralgie der liberal-demokratischen Gesellschaft. Um dem freien Wildwuchs der Meinungen zu begegnen, flirtet man mit illiberalen Massnahmen. Womöglich ist Aufmerksamkeitsentzug ein Mittel. Dummköpfen begegnet man allerdings nicht wirksam, indem man ihnen die Zuhörerschaft verweigert. Sie finden immer Gehör unter ihresgleichen, vor allem in sozialen Netzwerken. Einer der einflussreichsten politischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, Isaiah Berlin, hat das Problem mit unbequemer Klarheit formuliert: „Werden Demagogen und Lügner, Schurken und Fanatiker in liberalen Gesellschaften immer rechtzeitig gestoppt oder zulelzt widerlegt? Wie hoch darf der Preis sein, den wir für die grosse Gunst der Diskussionsfreiheit zu zahlen bereits sind? Zweifellos sehr hoch, aber unbegrenzt hoch?“
„Das geistige Wohlergehen der Menschheit“
Berlin stellte diese Fragen in einer Vorlesung über John Stuart Mill im Jahr 1959. Und sie sind heute aktueller denn je. Grund genug, die erwähnten Spielregeln neu zu bedenken. Mill erachtete sie ausdrücklich als „für das geistige Wohlergehen der Menschheit notwendig“. Aber eben: Wenn man auf die Universalität der Vernunft pocht – und das sollte man dezidiert tun –, dann braucht man so etwas wie Spielregeln der rationalen Fairness. Ich will damit die Millschen Regeln nicht zu einem unverbrüchlichen Kanon des Denkens hochstilisieren; und ob sie den angehäuften Bullshit beseitigen, bleibt eine debattierbare Frage. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass wir keine bessere Basis für das „geistige Wohlergehen des Menschen“ haben als die Bereitschaft, nach gewissen Standards der empirischen Beweisführung und der rationalen Argumentation zu spielen. Allmählich müsste uns dämmern, dass das Spiel der liberalen Demokratie eine solche Bereitschaft voraussetzt. Das ist heute keine Binsenweisheit mehr. Und diesen Umstand muss man als ein Symptom für die Morbidität unseres politischen Geisteszustandes lesen.
[1] https://www.nytimes.com/2018/06/25/opinion/free-speech-just-access.html