Tosender Applaus am Schluss. Ergriffen und begeistert zugleich bejubelt das Publikum in der restlos ausverkauften Tonhalle den unscheinbaren Belgier mit grauem Wuschelkopf, der sich auf der Bühne durch Chor und Orchester des Collegium Vocale Gent schlängelt und jene in den Vordergrund schubst, die in den nun zu Ende gegangenen zwei Stunden gesungen und musiziert haben.
Philippe Herreweghe gehört zu den grossen Neuerern der Alten Musik. 1970 gründete er das Collegium Vocale, mit dem er seither Bach spielt. Allerdings nicht ausschliesslich. In Zürich war es diesmal die Johannes-Passion, ein geistliches Werk, das früher festlichen Glanz in die Kirche gebracht hat und heute österliche Besinnlichkeit im Konzertsaal aufkommen lässt.
Einige hundert Mal hat er die Johannes- und die Matthäus-Passion inzwischen aufgeführt. Natürlich kennt Herreweghe seinen Bach inzwischen in- und auswendig. «Aber es kommen auch immer wieder neue junge Leute ins Collegium, und da bin ich oft mehr Professor als Dirigent», sagt er. «Aber Bach ist so gross, Bach hat so viel geschrieben, da gibt es immer wieder etwas zu entdecken.» Er selbst hat Bach zum ersten Mal mit sieben Jahren gehört. Jetzt ist er bald 68 Jahre alt. Bach begleitet ihn also schon sechzig Jahre. Auch zu einer Zeit, als er noch nicht daran dachte, Musiker zu werden. Denn nach seiner musikalischen Ausbildung am Konservatorium von Gent studierte Herreweghe Medizin und wurde zunächst Psychiater, bevor er sich endgültig der Musik zuwandte.
Zürich war die neunte Station seiner Tournee mit der Johannes-Passion. Am späten Nachmittag, kurz vor dem Konzert, gibt es noch einmal eine Probe. Unten im Eingangsfoyer stehen die Leute bereits in einer langen Schlange vor der Kasse. Oben im Tonhallesaal feilt Philippe Herreweghe noch an dieser oder jener Stelle. Speziell auf den Chor konzentriert er sich. «Wen suchet ihr?» fragt der Evangelist. «Jesum von Nazareth,» antwortet der Chor. Ganz deutlich und klar soll es artikuliert werden, nicht durchhängen, straff und voller Spannung muss es klingen. Philippe Herreweghe singt es vor, der Chor wiederholt es zwei-, dreimal und plötzlich klingt es tatsächlich nicht mehr so gemütlich wie ein Sonntagsspaziergang. Oder im zweiten Teil: Jesus singt «Es ist vollbracht», und die Altistin nimmt in ihrer Arie die Worte wieder auf. «Es ist vollbracht, o Trost vor die gekränkten Seelen.» Auch hier wieder: klar und zukunftsgerichtet sollen die beiden singen, «es ist vollbracht», und nun geht es weiter. Aufbruch, nicht Abschluss soll es signalisieren. Philippe Herreweghe probt Details, die am Schluss den Gesamt-Stil ausmachen.
Während die Platzanweiserinnen die Türen öffnen und die ersten Zuschauer in den Saal hineinlassen, gibt es für Philippe Herreweghe in der Garderobe schnell noch ein Sandwich und etwas Wasser, die Zeit ist knapp. Aber musste denn die Probe wirklich sein? Fast jeden Tag wurde doch nun die Johannes-Passion gespielt. «Ja doch, das ist wichtig, auch um die Spannung im Ensemble wieder herzustellen, nach dem Reisen. Am schwierigsten ist es, dieses Passionsgefühl beim Ensemble wachzuhalten. Gerade, wenn man einige Konzerte hintereinander gespielt hat,» meint Herreweghe.
«Der Text ist mir sehr wichtig, da konzentriere ich mich immer mehr darauf», sagt er. «Drei Tage haben wir die Johannes Passion geprobt, bevor wir auf Reisen gegangen sind». Und seither hat er an jedem Konzertort mit seinem Ensemble wieder Einzelheiten herausgepickt und ganz spezifisch geprobt. Ausgeruht wird erst nach der Tournee.
Immer wieder Bach. Langweilig wird ihm das nicht. Und wenn er dann mit seinem Ensemble auf der Bühne steht, lebt er auf. Da ist die Energie des Publikums, die er auf der Bühne spürt, und die Energie Bachs, die er wieder ins Publikum strömen lässt. Einen Taktstock braucht er nicht, einen Frack auch nicht. Im lockeren schwarzen Anzug gibt er den Takt an und knetet förmlich den Klang in seinen Händen.
Das Resultat ist einfach grandios.