Der erste Eindruck, dass auf der drittgrössten Insel Griechenlands etwas anders ist, entstand schon im Taxi. Ich will jetzt der geneigten Leserin, dem geneigten Leser nicht berichten, was mir der Taxifahrer vom Flughafen in die Inselhauptstadt Mytilini erzählt hat. Ich mochte die Journalisten nie besonders, die irgendwo einflogen, zum Besten gaben, was sie gerade hörten, und dann weiterzogen.
Insel der Steuerzahler?
Als ich den Taxifahrer bezahlte, überreichte er mir anstandslos eine korrekte Quittung über den ganzen Fahrpreis, was sonst in Hellas bei dieser Zunft eher selten geschieht. Wir waren eine gute Woche auf der Insel und es war immer das gleiche Bild: Quittungen wurden uns ausnahmslos unaufgefordert überreicht – auch für kleine Beträge. Dem Grund dieses kleinen Wunders kommt man auf die Spur, wenn man eine dieser Quittungen einmal genauer unter die Lupe nimmt: 17% Mehrwertsteuer steht geschrieben. Ein Fehler? Schummelei? In Griechenland beträgt die Mehrwertsteuer doch 24%; aber auf allen Quittungen das gleiche: 17%.
Einige durch ihre Randlage wirtschaftlich benachteiligte Inseln in der Ostägäis profitieren von einem reduzierten Mehrwertsteuersatz. Und je höher die Steuer ist, als desto ungerechter wird sie empfunden und desto höher wird der Steuerwiderstand.
Mit dieser einfachen Massnahme hat die griechische Regierung in den letzten Jahren einigen Inseln geholfen und verhindert, dass die lokale Wirtschaft völlig abgestürzt ist. Nun sind aber diese Sondersätze den Geldgebern schon lange ein Dort im Auge und Griechenland musste im Gegenzug zur Auszahlung der letzte Kreditrate bei Auslaufen des letzten Hilfsprogramms am 20. August zusichern, diese Sondersätze am Jahresende abzuschaffen. Man kann sich ausmalen, was passiert: Ein Nachteil mehr für die lokale Wirtschaft, steigender Steuerwiderstand (das heisst konkret: einige zahlen nicht 24%, auch nicht 17%, sondern null!) und in der Summe keine Mehreinnahmen. Für mich spricht also kein einziges Argument gegen die Beibehaltung der Sondersätze. Es ist ein reiner Zwang aus Prinzip – so wie ihn deutsche Finanzminister gerne ausüben. Natürlich ist es extrem komplex, den Vorsteuerabzug vorzunehmen, wenn die Vorsteuer eventuell zu 24% anstatt zu 17% abgeführt wurde. Aber solche Sondersätze gibt es in vielen Ländern für gewisse Produktgruppen wie Nahrungsmittel. Also warum nicht für benachteiligte Inseln?
Randlage – was heisst das?
Was heisst diese Benachteiligung konkret für Lesbos? Die Insel ist Teil der ostägäischen Inselgruppe, die sich an die türkische Küste schmiegen. Diese Inseln machen, das zeigt ein kurzer Blick auf die Karte klar, die Ägäis zum Binnenmeer. Das passt den Türken zwar nicht, ist aber nun mal so. Wir gingen am ersten Abend im Hafen spazieren. Die türkische Küste ist etwa so weit vom Hafen von Mytilini entfernt wie das französische Evian vom Hafen von Lausanne. Wir sahen die beleuchteten Häuser im Nachbarland und es handelte sich hier nicht einmal um die engste Stelle. Von Athen aus bedeutet aber eine Reise nach Lesbos eine 13-stündige Schiffsreise. Die Schnellboote, die die Strecke in der Hälfte geschafft haben, gibt es längst nicht mehr. Oder aber man nimmt das Flugzeug. Dann ist man in einer halben Stunde von Athen da. Man hat also die Wahl zwischen bequem und teuer oder unbequem, lange und billig. Und wenn man ein Auto transportieren muss, hat man nicht die Wahl. Das bedeutet Randlage konkret. Früher gab es viele Charterflüge aus Westeuropa; ein solcher Direktflug mindert die Randlage etwas. Mittlerweise gibt es praktisch keine mehr. Osteuropäer, zum Beispiel aus den baltischen Staaten, halten aber Lesbos bis zu einem gewissen Grad die Treue.
Der Weg zur heutigen Flüchtlingskatastrophe
Die Strecke von der türkischen Küste nach Lesbos wäre auch für mich als Süsswasserkapitän bei einigermassen gutem Wetter keine besondere Herausforderung. Das erklärt einiges: 1922 geschah das, was die Griechen die „kleinasiatische Katastrophe“ (griechisch: Μικρασιατική καταστροφή) nennen. Dem Ersten Weltkrieg war ein Waffengang zwischen Griechenland und der Türkei gefolgt. Türkische Truppen eroberten das alte Smyrna (griechisch Σμύρνη heute türkisch İzmir). Was folgte war ein Blutrausch und die Brandschatzung der Stadt, was der dreitausendjährigen Besiedlung der Gegend durch Griechen ein Ende setzte. Armenier, die dem Völkermord während des Ersten Weltkrieges entkommen waren, sowie die gesamte griechische Bevölkerung der Stadt wurden ermordet, vertrieben oder flüchteten, falls die Zeit dazu reichte. An Bord eines solchen Flüchtlingsbootes: Die kürzlich verstorbene Grossmutter meiner Ehefrau. Ziel des Bootes: Lesbos. Von dort her kommen die Bande meiner Familie zu dieser Insel. Die geographische Lage hat sich für viele Schutzsuchende als Segen erwiesen, für die lokalen Bewohner, die sich von Athen im Stich gelassen fühlen, ist sie eher Fluch. Und die Kunde von den Flüchtlingen, die Nähe zur Türkei und zum Ort der kleinasiatischen Katastrophe hat Leben und Denken in Lesbos geprägt.
Und nach 90 Jahren kommen sie wieder, die Flüchtlingsboote, wieder tobte ein Krieg und wieder bot Lebos vielen Flüchtlingen Schutz und Rettung. Musste sich die Geschichte auf derart grausame Art wiederholen?
Endstation Lesbos
Wir sehen als Reisende erstaunlich wenig von den Flüchtlingen. Sie leben in einem Hotspot bei Moria, ein Dorf, das wegen eines römischen Aquäduktes eine gewisse Bekanntheit hat. Ein Bus bringt sie jeweils in die Stadt Mytilini, damit sie sich etwas umsehen und einkaufen können. Offensichtlich haben die Griechen die Sache hier einigermassen in den Griff gekriegt. Wenn man danach fragt erfährt man, dass immer noch neue Flüchtlinge kommen – jede Nacht. Aber nicht mehr in diesem Ausmass wie früher. Wie das sei? fragte ich. Funktioniert der Flüchtlingsdeal mit der Türkei? Einigermassen, sagen die Gesprächspartner. Im Hafen sehe ich die Kanonenboote von Frontex, der EU-Grenzagentur.
Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei vom März 2016 sah vor, dass die Türkei Flüchtlinge an der Überfahrt hindert und dass diejenige, denen es trotzdem gelingt, in den Insel-Hotspots bleiben, bis über ihren Asylantrag entschieden ist. Bei Ablehnung werden sie direkt in die Türkei abgeschoben. Eigentlich tönt dieser Deal recht vernünftig und er scheint auch einigermassen zu funktionieren. Ist es aber nicht auch so, dass viele Flüchtlinge nicht nur der scharfen Überwachung durch die türkischen Grenzer wegen nicht mehr in die Boote steigen, sondern weil sie von den ostägäischen Inseln nicht mehr weiterkommen? Vor dem Flüchtlingsdeal stand ihnen die Balkanroute offen. Heute ist die Sache so: Wie oben beschrieben sind die ostägäischen Inseln so gelegen dass eine illegale Ausreise ins übrige Griechenland leicht verhindert werden kann. Am Flughafen wird kontrolliert, am Fährhafen auch und für Gummiboote ist die Reise zur nächstgelegenen griechischen Insel zu weit und das offene Meer oft stürmisch. Zusätzlich abschreckend wirken die zusätzlichen Kontrollmassnahmen und Grenzzäune, die Länder wie Ungarn ergriffen haben. Könnte es nicht sein, dass alle diese Massnahmen, ob sie nun in Westeuropa akzeptiert oder verpönt sind, ineinandergreifen und dazu geführt haben, dass man den Strom von Flüchtlingen heute einigermassen kontrollieren kann?
Der griechische Migrationsminister will die Asylverfahren auf den Inseln bald auf drei bis vier Monate verkürzen und auch die Appellationsverfahren straffen. Anschliessend sollen die Flüchtlinge wie vorgesehen in die Türkei abgeschoben werden.
Sommerferien auf Türkisch
Bereits kurz nach der Landung in Mytilini, als ich unseren Mietwagen bezogen hatte, fiel es mir auf: vor mir an der Ampel stand ein Personenwagen mit türkischem Kennzeichen – etwas, was man in Griechenland sonst nicht sieht. Kurze Zeit später schlenderten wir am Abend den Hafentavernen entlang. Noch bevor wir uns zum Abendessen setzten, fiel mir etwas auf: ein grosser Teil der Touristen, die am Hafen von Mytilini assen, sprachen türkisch. Überall gab es türkisch geschriebene Speisekarten und sogar die griechischen Kellner sprachen teils türkisch. Sogar Jachten mit türkischer Flagge liegen einträchtig neben griechischen Schiffen im Hafen vertäut. Was war geschehen? Habe ich da etwas verpasst? Griechen und Türken… Auf dem Höhepunkt der Krise hatte die damalige griechische Regierung nach Massnahmen gesucht, der lokalen Wirtschaft zu helfen. Von der Krise war der Tourismus in unterschiedlichem Masse betroffen. Während auf einigen sehr beliebten Inseln nach wie vor alles rund lief, hatten ostägäische Inseln wie Chios, Kastelorizo, Kos, Lesbos, Rhodos, Samos und Simi einen starken Einbruch zu gewärtigen. Die Flüchtlingskrise versetzte der Wirtschaft dieser Inseln noch einen zusätzlichen Schlag. Die Regierung kam dann vor etwa sechs Jahren auf die Idee, beschränkt auf diese Inseln eine Visums-Sonderregelung für türkische Staatsbürger einzuführen. Türkinnen und Türken benötigen, wenn sie in den Schengen-Raum einreisen, ein Schengen-Visum. Dieses müssen sie auf einem griechischen Konsulat oder auf der Vertretung eines anderen Schengen-Staates lösen, wobei diese sich nicht immer gleich um die Ecke befindet. Seit der Saison 2012 können Türkinnen und Türken nun für zwei Wochen visumsfrei auf die ostägäischen Inseln reisen und dort ihre Ferien verbringen. Für mich war es augenfällig, dass nebst der Sonderregelung betreffend Mehrwertsteuer diese Visumsbefreiung in Lesbos den Tourismus gerettet hat, weil die Menschen aus dem Nachbarland in Scharen davon profitieren.
Allerdings gibt es zwei Wertmutstropfen bei dieser ansonsten sehr guten Regelung: es ist es wie bei der Mehrwertsteuer die EU, die versucht, dieser nachbarschaftlichen Annäherung einen Strich durch die Rechnung zu machen. Für die EU ist der Schengenraum ein einheitliches Gebilde, das keine Sonderregeln verträgt. Da könnte ja jeder kommen! Die Griechen argumentieren, dass gerade die Randlage dieser Inseln ein Einsickern türkischer Staatsbürger in den übrigen Schengenraum verhindert. Auf den Flughäfen wird auch bei Inlandsflügen die Identität kontrolliert, an den Fährhäfen auch und für eine illegale Überfahrt ist es zu weit. Die Missbrauchsgefahr ist also gering. Deshalb konnte sich die griechische Regierung bisher in Brüssel durchsetzen. Für mich ist aber klar: Muss die Mehrwertsteuer von 17 in einem Ruck auf 24% erhöht werden und müssen Türken wieder ein Schengen-Visum vorweisen, dann ist die Wirtschaft in Lesbos am Boden.
In Mantamados, im Norden der Insel Lesbos befindet sich ein Kloster aus byzantinischer Zeit, das dem Erzengel Michael geweiht ist. Mit dem Kloster des heiligen Raphael gehört es zu den bedeutendsten Klöstern der Insel. Eine Besonderheit ist die wundertätige Ikone des Erzengels Michael, die gemäss der Überlieferung aus Blut und Lehm geformt wurde. Wir haben dieses Kloster nicht zum ersten Mal besucht und für uns ist diese Pilgerstätte wichtig. Was uns schockierte war nicht die Tatsache, dass im Halbstundentakt Reisebusse mit türkischen Touristen vorfuhren, die in der Klosterkirche einen Augenschein nahmen. Was uns schockierte, war deren Benehmen und die Tatsache, dass die griechischen Verantwortlichen nichts dagegen unternahmen und darauf angesprochen, nach Ausflüchten suchten und sich niemand verantwortlich fühlt. Frauen, die im Badeanzug die Kirche betreten und sich vor einer Ikone ablichten, Männer in kurzen Hosen, Gespräche in der Lautstärke eines Kaffeehauses – und das, obwohl die Verhaltensregeln vor der Klosterpforte gut sichtbar in türkischer Sprache angeschlagen sind. Ich habe in meinem Leben noch nie eine derartige Respektlosigkeit von Touristen gesehen – sei es aus Unwissen, sei es aus Bequemlichkeit, sei es aus fehlender Sensibilität. Der Vorfall zeigt mir aber, dass man auch bei Touristen ein Minimum an Anstand und Befolgung von lokalen Verhaltensregeln einfordern soll und dass das Eingehen auf ihre Wünsche Grenzen hat.
Die beiden Aufseherinnen schwatzten, schritten aber nur ein, als eine griechische Grossmutter diskret im Kirchenraum fotografierte… Wir gönnten uns nach dem Klosterbesuch doch noch einen griechischen Kaffee unter schattigen Bäumen, verliessen aber den Ort nachdenklich.
Lesbos: eine gesegnete und gleichzeitig geschundene Insel, aber immer ein Besuch wert!