Nach den schweren Überschwemmungen im Innern der Romagna erwartet jetzt Ravenna die grosse Flut. Die Behörden haben für die Stadt nahe der Adria die Alarmstufe rot ausgerufen. Die Meteorologen sagen neue, heftige Regenfälle voraus.
Siehe auch aktualisierten Text Das Schlimmste ist überstanden, vorerst
Der Bürgermeister von Ravenna sagt am Samstag: «Es ist der schlimmste Tag. Wir wissen nicht, ob wir das Wasser aufhalten können.» Die Flüsse und Kanäle schwellen immer weiter an. Um sich Mut zu machen, singen Menschen von Ravenna das Volkslied «Romagna mia». Laut Zeitungsberichten ist das Lied zur Hymne des «Widerstands gegen die Wut des Wassers» geworden.
Ravenna ist zur Zeit eingeschlossen von Wasserlachen, die bis zu drei Meter tief sind. Mehr als 37’000 Menschen wurden bisher evakuiert. Andere sind in den oberen Wohnungen ihrer Häuser blockiert. An einzelnen Orten reicht das Wasser bis ins dritte Stockwerk.
Die Behörden fordern die Bevölkerung auf, sich bereit zu machen, um auf die Dächer zu flüchten.
14 Tote, zwei Dutzend Vermisste
Vor der Stadt Ravenna hilft der Zivilschutz alten und kranken Menschen ihre überfluteten Häuser zu verlassen. Schlauchboote werden eingesetzt. Die Flüsse Senio, Santerno, Sillaro und Lamone quellen über und haben Hunderte Dämme mit sich gerissen. Die Adria-Strände sind gemäss einem Behördenmitglied teilweise vom Wasser «aufgefressen» worden». Bisher wurden allein in der Romagna 290 Erdrutsche registriert. Da und dort wurde die Kanalisation zerstört und Fäkalien fliessen in die Strassen.
Die Romagna, also der östliche Teil der italienischen Region Emilia-Romagna wird seit zehn Tagen von schweren Überschwemmungen heimgesucht. Bisher sind 14 Menschen ums Leben gekommen. Über zwanzig Menschen werden vermisst. Betroffen waren vor allem die Städte Forlì, Imola, Faenza, Cesena, Riccione und Lugo – und jetzt Ravenna. In Lugo ist ein Helikopter, der Hilfe bringen wollte, abgestürzt. Vier Menschen wurden verletzt.
«Schlammengel»
In der unteren Romagna, der «Bassa Romagna», sind nach Angaben der Behörden hundert Quadratkilometer Land zu 80 bis 90 Prozent überflutet. Hunderte abgelegene Dörfer sind von der Aussenwelt abgeschnitten. Die meisten sind ohne Strom, Wasser und Gas. Da und dort gehen die Lebensmittel aus. Die wenigen Apotheken, die noch geöffnet sind, wurden gestürmt – ebenso die Supermärkte, deren Regale jetzt fast leer sind.
Tausende, vorwiegend junge Leute, sogenante «Schlammengel» (Angeli del fango), sind im Einsatz und helfen den Hilfskräften und den Evakuierten.
Ställe sind überflutet, Hunderte Tiere sind ums Leben gekommen. In Lugo versuchen Menschen, ihre Kühe und Schweine zu retten.
«Noch nie dagewesenes Ereignis»
Die SS 16 Adriatica, die Autobahn, die von Venetien der Adria entlang bis nach Apulien reicht, ist in der Romagna zu einem reissenden Fluss geworden. Schwer betroffen ist der Strand von Rimini.
Castrese de Rosa, der Präfekt der Provinz Ravenna, spricht von einem «einmaligen Notfall» und einem «noch nie dagewesenen Ereignis». Er fordert die Bevölkerung auf, am Wochenende zu Hause zu bleiben und sich in den oberen Stockwerken aufzuhalten und vor allem das Auto nicht zu benutzen.
Viele missachten diese Warnung und versuchen, ihre Autos zu schützen und in höher gelegene Gegenden zu bringen. Einige bleiben in den Wassermassen stecken.
Taucher suchen nach Vermissten
Rund um Ravenna versuchen Rettungskräfte und Freiwillige, Dämme zu errichten, um die Flut, die auf die Stadt zukommt, aufzuhalten. Andrea Montanari, ein Einsatzleiter, erklärt: «Wir brauchen mehr Mittel, mehr Wasserpumpen und mehr Männer. Wir hoffen, dass die Hilfe nicht zu spät kommt.»
In der Stadt Cervia an der Adriaküste wurden 1’500 Menschen evakuiert. Notfalllager wurden eingerichtet. Nach Angaben von Massimo Medri, dem Bürgermeister von Cervia, wurde das Spital San Giorgio geschlossen. 900 Menschen seien in der Sporthalle, in Privathäusern und Hotels untergebracht worden.
Inzwischen sind auch Taucher und Feuerwehrleute in der Gegend eingetroffen. Sie suchen in den Wassermassen nach Vermissten.
Verkehrschaos
Die Autobahn von Bologna an die Adria wurde wegen des Hochwassers gesperrt, was im nördlichen italienischen Strassennetz ein Chaos verursachte. Zehntausende Lastwagen versuchten, von Bologna nach Süden und dann irgendwie, teils auf Nebenstrassen, Richtung Adria zu gelangen.
Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die am G7-Gipfel in Hiroshima teilnahm, hat wegen des Hochwassers vorzeitig ihre Rückreise nach Italien angetreten und ist am Sonntagmittag in Rimini gelandet. Präsident Biden hat seine Solidarität mit den Opfern der Katastrophe bekundet.
Bereits jetzt wird der wirtschaftliche Schaden des Hochwassers auf sechs Milliarden Euro beziffert.
Siehe auch Artikel vom Sonntag Das Schlimmste ist überstanden
Auch in der Toscana richteten die Regenfälle schwere Schäden an. Allein in Mugello, nördlich von Florenz, ereigneten sich 180 Erdrutsche. 500 Menschen sind in Mugello am Apennin von der Aussenwelt abgeschnitten. Auch im Piemont regnet es stark. Einzelne Bäche und kleine Flüsse quellen bereits über. Erste Strassen wurden gesperrt. In Clavesana in der Gegend von Cuneo ging ein Erdrutsch nieder. Auch in Turin wird mit Hochwasser gerechnet. Das am Po liegende Murazzi-Quai wurde geschlossen.
Italien wäre nicht Italien, wenn nicht sofort polemische Schuldzuweisungen aus dem Boden schössen. Stefano Bonaccini, der Präsident der Region Emilia-Romagna, erklärte: «Zuerst helfen, dann die Polemik.»