Natalja Wassiljewa, die Assistentin von Richter Danilkin, hat ihre Aussagen über das laut ihrer Darstellung von höherer Stelle angeordnete Urteil gegen den früheren Ölmagnaten Chodorkowski in einem Interview formuliert, das von der Internetzeitung gaseta.ru und dem Fernsehsender Doschd ausgestrahlt wird.
Gorbatschew glaubt der jungen Frau
Die Erklärungen der jungen Frau auf der angegebenen Website machen einen überzeugenden Eindruck. Es klingt glaubhaft, wenn sie sagt, sie sei enttäuscht über die fehlende Unabhängigkeit des Richters in diesem Prozess. Das Urteil sei ihrem Chef von der vorgesetzten juristischen Instanz, dem Moskauer Stadtgericht, aufgezwungen und sogar vorformuliert worden sei. Danilkin, den sie offenbar als Menschen schätzt, sei nervös und deprimiert gewesen. Der frühere sowjetische Staatschef Gorbatschew sagte später, er glaube den Erklärungen von Natalja Wassiljewa vollumfänglich.
Man darf vermuten, dass eine Mehrheit der russischen Bevölkerung durch die Aussage, das Urteil im zweiten (ebenso wie wohl auch im ersten) Chodorkowski-Prozess sei von oben diktiert worden, schwerlich überrumpelt wurde. Dass in Russland in politisch derart bedeutsamen Verfahren wie den Prozessen gegen den einst reichsten Oligarchen mit einer unabhängigen Justiz zu rechnen sei, das hätten wohl die meisten Russen schon vor den Aussagen Natalja Wassiljewas als weltfremdes „Märchen“ empfunden. Auch ist die Annahme wohl nicht übermässig verwegen, dass ein erheblicher Teil der russischen Bürger es richtig findet, dass eine starke Hand (konkret: Regierungschef Putin) dafür sorgt, dass ein unbotmässiger Superreicher wie Chodorkowski, der ja als Geschäftsmann kein Unschuldslamm war, für ein paar zusätzliche Jahre hinter Gittern bleibt.
Solche Vorstellungen von einer durch die politischen Machthaber gelenkten Justiz haben in Russland lange geschichtliche Wurzeln. Putin hatte zwar bei seinem Machtantritt als Präsident vor mehr als einem Jahrzehnt zunächst davon gesprochen, im Interesse von Russlands Modernisierung müsse die „Diktatur des Rechts“ durchgesetzt werden – eine ominöse Formel, die autokratischem Denken näher zu stehen scheint als rechtsstaatlichen Traditionen und Überzeugungen.
Bisher keine Konsequenzen
Doch bei aller Ernüchterung über die in vielen Bereichen eklatanten Schwächen der postkommunistischen Justiz – etwa bei der Aufklärung von zahlreichen Journalistenmorden und der Korruption in den oberen Etagen der Kreml-Hierarchie – kann man auch deutliche Unterschiede zu den sowjetischen Verhältnissen erkennen: Im sowjetischen Einparteienstaat hätte eine Erklärung wie diejenige von Natalja Wassiljewa über von oben diktierte Richterurteile nie in einem allgemein zugänglichen inländischen Medium verbreitet und in aller Öffentlichkeit diskutiert werden können. Zwar gab es in den späten Phasen des Sowjetreiches mutige dissidente Stimmen, doch diese konnten ihre Meinungen nie in den durchgehend staatlich kontrollierten Inlandmedien publizieren. Ausserdem sind solche oppositionellen Stimmen früher oder später mundtot gemacht oder ins Ausland deportiert worden.
Repressalien aber scheint es gegen die Whistleblowerin Natalja Wassiljewa, die die Gängelung des Richters Danilkin im zweiten Chodorkowski-Prozess beherzt zum öffentlichen Thema gemacht hat, bisher nicht gegeben zu haben. Über ihren Status und ihr jetzigen Aufenthaltsort liegen keine klaren Informationen vor. Unmittelbar nach ihrem Enthüllungs-Interview hiess es, die Justizangestellte habe ihren Posten gekündigt. Später war zu lesen, sie befinde sich im Urlaub.
Richter Danilkin hat ihre Aussage über das Zustandekommen seines Urteils im zweiten Chodorkowski-Prozess zwar als „Rufmord“ kritisiert, aber er hat vorläufig darauf verzichtet, eine Klage gegen sie einzureichen. Zwei Frauen haben inzwischen erklärt, für Natalja Wassiljewna als Zeuginnen aufzutreten, falls es zum Prozess gegen sie kommen sollte.
Vieles an dieser Causa bleibt offen. Ob die Whistleblowerin ganz ungeschoren davonkommt oder gar zu einem Widerruf ihrer Interview-Aussagen gezwungen wird, wird sich zeigen. Die von der Staatsmacht nicht gelenkten Medien, die es im heutigen Russland gottseidank auch gibt (wenn auch nicht im flächendeckenden Fernsehen), werden auf die weitere Entwicklung dieser Geschichte sicher ein waches Auge halten.
Wem nüzt’s?
Zu den offenen Fragen zählen natürlich auch die in Russland immer besonders üppig ins Kraut schiessenden Vermutungen, dass hinter dem 16-minütigen Fernseh-Interview von Natalja Wassiljewa ein grösseres Projekt stecke. Sollten Chodorkowskis Anwälte die Assistentin von Richter Danilkin zu ihrem Auftritt ermuntert haben? Könnte mit ihrer Aussage versucht worden sein, die noch hängige Entscheidung über ein Berufungsverfahren gegen die zweite Chodorkowski-Verurteilung zu beeinflussen? Läge eine erfolgreiche Revision dieses Urteils nicht im Interesse von Präsident Medwedew, dessen Glaubwürdigkeit als Herold einer unabhängigen Justiz durch die jüngste Justizfarce im Fall Chodorkowski stark gelitten hat? Dieser Komplex, zu dem ja auch die Geschichte von Natalja Wassiljewa gehört, wird noch einiges zu reden geben.