Die alte griechische Tradition, Stühle vor die Tür an die Strasse zu stellen, Kaffee zu trinken und miteinander zu sprechen ist selten geworden, aber auch in Athen nicht ganz verschwunden. Kürzlich haben wir es wieder getan. Gesprächsstoff gab es genug, am 7. Juli sind Wahlen.
In Agios Anargyros, einer Nachbarschaft in Athen, die nach der kleinasiatischen Katastrophe von 1922 Flüchtlingen eine neue Heimat wurde, hat unsere Familie ein kleines Haus. Dort dominieren noch nicht die grossen Wohnblöcke und manchmal trifft man sich noch auf einen Schwatz am Gartentor oder auf der Strasse.
Das «wir» ist schnell erzählt: Ein Ü-Sechziger, krausköpfig, schlank, Mitglied und glühender Advokat der Regierungspartei «Koalition der radikalen Linken» (SYRIZA) – unser Nachbar. Ein Ü-Achtziger, weniger schlank und jahrzehntelanges Mitglied der orthodox kommunistischen Partei KKE – er wohnt ein paar Schritte weiter. Beides sind Griechen, aber der dritte im Bunde, das bin ich, der liberale, demokratische Schweizer.
Ich stelle Stühle neben das Gartentor und serviere griechischen Kaffee: schwarz, stark, dickflüssig und mit Schaumkrone. Der Krauskopf rollt sich eine Zigarette (natürlich ohne Filter) und nimm einen ersten Zug.
«Du repräsentierst also jetzt hier die Staatsmacht», sage ich, um das Eis zu brechen und den Krauskopf zu necken.
«Schon Lenin hat gesagt, dass es komplett etwas anderes ist, die Regierung zu stellen und die Macht im Staate auszuüben. In Griechenland gibt es Institutionen, die der Regierung (er meint: insbesondere dieser Regierung) nicht gehorchen und komplett intransparent arbeiten: die Polizei, das Militär, die Kirche», doziert er. Der Ü-Achtziger nickt eifrig.
Hier tut sich schon eine erste Meinungsverschiedenheit auf: «Ich finde zwar die Intransparenz dieser Institutionen und die Tatsache, dass die praktisch ein Staat im Staat sind, auch nicht gut, aber im Gegensatz zu euch, befürworte ich starke und unabhängige, demokratische Institutionen, checks und balances», erkläre ich den beiden.
Während ich einen Schluck Kaffee nehme, hakt der Kommunist ein: «Wir wollen die ganze Macht im Staat, raus aus der EU und raus aus der NATO. Wenn das nicht geht, wollen wir gar nicht regieren,» sagt der Vertreter der Partei, die stabil immer zwischen 4 und 7 Prozent der Bevölkerung mobilisiert. «Diese Gefahr besteht im Moment wohl auch nicht bei Eurem Wähleranteil,» will ich grad sagen, kann mir dann aber den Satz noch verkneifen. Immerhin habe es liberale Parteien noch schwerer als die orthodoxen Kommunisten.
SYRIZA und Tsipras: Besser als erwartet
SYRIZA hat sich Ende der Achtziger Jahre von der KKE abgespalten. Während der eine der Männer den Kommunisten treu bleib, wechselte der andere zur neuen Partei, die man damals als eurokommunistisch beschrieb. Sie haben deshalb auch persönlich immer wieder den einen oder anderen Strauss auszufechten.
Der Krauskopf drückt die Zigarette aus. «Tsipras macht, was er kann», sagt er. «Im Rahmen dessen, was mit den griechischen Institutionen und mit den Geldgebern möglich ist, tut er das Optimum.»
Gerade er hatte mich immer in Verdacht, ein gewissenloser Kapitalist zu sein.
Nun komme ich ihm aber zu Hilfe:
„Tsipras hat seine Sache viel besser gemacht, als ich meinte“, sage ich. „Ich dachte, dass es nicht möglich sei, einen derart hohem Primärüberschuss zu erwirtschaften, wie es nun geschieht und dass die Vorgaben der Geldgeber völlig unrealistisch sind. „Ich habe mich getäuscht. Im Unterschied zu seinen Vorgängern hat Tsipras seine Ziele erreicht und die waren mit 2, 3 oder noch mehr Prozent Primärüberschuss extrem ambitiös.“
„Ich kann mich erinnern, dass Du das gesagt hat,“ bemerkt der SYRIZA-Mann und dreht sich eine neue Zigarette. „Zusätzlich hat Tsipras auch die Krankenversicherung auf ausgesteuerte Arbeitslose ausgeweitet, die sonst durch alle sozialen Maschen gefallen wären. Er hat 2 Millionen Unversicherte neu ins Gesundheitssystem integriert, die Bürokratie funktioniert deutlich besser und das verhindert eine komplette Verarmung. Er tut, was politisch möglich ist und funktioniert. “ Auch wir haben festgestellt, dass – im Unterschied zu dem, was man in der Schweiz allenthalben liest – gewisse Dinge besser funktionieren als in der Vor-SYRIZA-Zeit. Ein Beispiel dafür ist das staatliche Gesundheitssystem, das auch uns eher positiv überrascht hat.
In der Tat: Trotz aller Härte, obwohl die Sparprogramme zu einer nie dagewesenen Abwärtsspirale geführt haben: Das Land ist, im Unterschied zu Deutschland der Weimarer Republik, nicht unregierbar geworden oder auseinandergefallen: die nationalsozialistische Χρυσή Αυγή (Chrysi Avgi), die Goldene Morgenröte, ist stabil und steht nicht vor der Machtübernahme wie weiland ihr braunes Vorbild. Der soziale Kitt hat einigermassen gehalten. Und nun kommt eine weitere gute Nachricht. In den Jahren seit 2015 ist der Gini Koeffizient in Griechenland leicht gefallen – etwa von 35 auf 32. Diese Zahl ist ein Ungleichverteilungsmass und misst die Einkommensverteilung – je höher, desto ungleicher und damit ungerechter.
„Griechenland ist halt trotz allem vor von einer neoliberalen Raubtierkapitalisten-Clique dominiert“, fährt der Krauskopf weiter.
„Extrem“, sagt der Kommunist.
„Und hier bin ich nicht einverstanden“, fahre ich dazwischen. Ich erkläre den beiden, dass der Staat in Griechenland nach wie vor eine überragende Rolle spielt, dass mehr als 50% der Wirtschaftsleistung von staatlichen oder parastaatlichen Firmen erbracht werden und dass dieser gleichzeitig Schiedsrichter und Spieler ist. Von einer neoliberalen Hölle kann also keine Rede sein. Der Staat gängelt die Bürger mit Bürokratie sowie willkürlicher und selektiver Anwendung der Gesetze, plus – sofern gezahlt – prohibitiv hohen Steuern. Was Not tut, fahre ich fort, seien kleine aber agile, unabhängige, transparente und starke staatliche Institutionen. Nur wenn der Staat berechenbar ist, dann kommen Investitionen und entstehen Arbeitsplätze. Und wenn dann mal das Wachstum anzieht und die Arbeitslosigkeit zurückgeht, dann steigen auch die Löhne wieder, folgerte ich. Steuersenkungen sind zwar wichtig, aber ohne einen berechenbaren Staat bringen sie nicht viel.
Dieses Gespräch hat um die Osterzeit stattgefunden. Es war damals schon klar, dass es bald Parlamentswahlen geben würde. Unklar war nur, wann. Nun hat die Opposition die Europawahlen gewonnen und Ministerpräsident Tsipras musste die regulär im Oktober fälligen Parlamentswahlen auf den 7. Juli vorverlegen. Das Datum im Hochsommer ist ungewohnt und ungewohnt ist auch die Situation mit Tsipras als Amtsinhaber. Herausforderer ist der Chef der rechten Oppositionspartei Nea Dimokratia, Kyriakos Mitsotakis. Ich habe mich hier schon ausführlich über ihn und seinen Hintergrund geäussert. Der Kommunist verlässt uns für einen Moment. Er ist zwar nicht gläubig, aber die Traditionen hält er aufrecht. Er trifft Vorbereitungen für das traditionelle Lamm am Spiess, gesellt sich aber ziemlich schnell wieder zu uns.
Mitsotakis verspricht das Blaue vom Himmel…
„Mitsotakis sagt klar, was er machen will,“ fährt der Krauskopf fort und bläst den Rauch aus der Nase: Mehrwertsteuer auf 14 % runter, eine radikale Kürzung der Zuschüsse und Berechtigungen, z.B. im Gesundheitssystem und von fünf Personen, die den Staatsdienst verlassen, könnte nur eine ersetzt werden.“
Meine Antwort überrascht meine beiden Gesprächspartner: „Entweder das Programm wird nicht umgesetzt oder es scheitert, “ antworte ich. Der Krauskopf lacht schräg und der Kommunist nickte zögerlich.
Wie komme ich zu dieser Prognose? Kyriakos Mitsotakis ist der Abkömmling einer einflussreichen Politikerfamilie. Er ist der Sohn des früheren Premierministers Konstantinos Mitsotakis, Grossneffe des Ministerpräsidenten nach dem 1. Weltkrieg Eleftherios Venizelos und Enkel des kretischen Politikers Kyriakos Mitsotakis, Bruder der aktuellen Parlamentsabgeordneten und früheren Ministerin Dora Bakoyianni, Onkel des neuen Athener Bürgermeisters Kostas Bakoyiannis. Die Liste der vom Staat bezahlten Mitgliedern des Mitsotakis-Clans wäre noch länger, wenn die bei den parastaatlichen Organisationen beschäftigten Familienmitglieder mit einbezogen würden.
Allerdings wettert genau dieser Mitsotakis gegen die Herrschaft von Familienclans in Griechenland. Ausgerechnet! Es sagt, er wolle aufgrund eigener Leistung seinen Job verdienen und daran gemessen werden. Das tönt gut. Aber würde ihm jemand zuhören, wenn er aus einer armen Familie käme – oder aus der Mittelklasse? Hätte ihn jemand zum Parteiführer gewählt, wenn er nicht einen klingenden Namen hätte? Nein, er ist heute Oppositionsführer seines Namens wegen und nicht weil er der Wägste und Beste ist. Und denjenigen, die ihn in der Partei zum Parteiführer gewählt haben, schuldet er etwas. Und diese Strippenzieher werden von ihm nicht das verlangen, was er im Wahlkampf verspricht. Sie werden für ihre Verwandten Jobs verlangen, beamtete Jobs im staatlichen Sektor, Privilegien und Subventionen. Mitsotakis ist gelernter Powerpoint-Folienmaler und hat als solcher bei der Beratungsfirma Mc Kinsey in London gearbeitet. Und dort wäre er wohl immer noch, wenn er anders hiesse. Soviel zur Meritokratie in seiner Partei.
… aber kaum etwas dürfte funktionieren
Mitsotakis verspricht seiner Wählerschaft also Steuererleichterungen und Sparmassnahmen, die schwerpunktmässig die Armen und die Mittelschicht treffen (so noch vorhanden). Er erwartet dann, dass Investitionen, Jobs und ein Wachstum von 3,5 bis 4% über viele Jahre folgen. Und wenn sie nicht gestorben sind…
Da sind sie also wieder einmal, die berühmten Vodoo-Economics. Den Begriff geprägt hat ein amerikanischer Ökonom und ausprobiert wurde das Rezept erstmals in den USA der Reagan-Jahre. Das Resultat: Steigende Defizite. Meine Prognose, wenn es in Griechenland angewendet wird: siehe oben. Warum?
Zu den von Märchenerzähler Mitsotakis versprochenen Investitionen wird es nicht kommen, weil dafür Griechenland sich nicht eignet. Das Land ist unberechenbar und bürokratisch und die Lohnkosten sind zwar fast auf Hungerniveau gesenkt worden, aber trotzdem noch höher als in einem klassischen Billiglohnland (die Preise aber auch). Ausser in gewissen strategischen Sektoren wie Tourismus (der ohnehin brummt) und Transport (Stichwort: Hafen von Piräus), lohnen sich Investitionen auch unter Mitsotakis nicht. Man könnte höchstens versuchen, die verminderten Steuersätze durch gesteigerte Bekämpfung der Steuerhinterziehung zu kompensieren. Dass der Kampf gegen Steuerhinterziehung auch in Griechenland nicht hoffnungslos ist, zeigt die Regierung Tsipras. Dass aber ausgerechnet die Nea Dimokratia sich in diesem Bereich hervortut, ist mehr als unwahrscheinlich, wenn man den erbärmlichen track record dieser Partei betrachtet. Aus diesen Gründen wird Mitsotakis sein Programm in den Sand setzen, wenn er überhaupt versucht, es umzusetzen.
Viel wahrscheinlicher ist, dass sich nach dem Wahltag in der Nea Dimokratia die gleiche Dynamik zeigt, wie nach dem Prespes-Abkommen. Mitsotakis wusste genau, dass dieses Abkommen zur Lösung des Mazedonienproblems zwar nicht ideal, aber vernünftig ist. In der Partei gibt es aber eine nationalistische Strömung, die eine Zustimmung zu diesem Abkommen nie akzeptiert hätte. Der frühere Ministerpräsident Antonis Samaras hat 1993 Kostas Mitsotakis zu Fall gebracht, als er im Begriff war, dieses leidige Problem zu lösen. Kyriakos Mitsotakis wollte nicht, dass sich die Geschichte wiederholt und sich seine Partei spaltet oder er als Parteiführer abgelöst wird. Er wird auch in der Wirtschaftspolitik Rücksicht nehmen auf diejenigen in der Partei, die ihn zum Parteiführer gewählt haben. Und das verheisst nichts Gutes.
Guten Erfahrungen mit Tsipras, aber er dürfte trotzdem verlieren
Ministerpräsident Tsipras hingegen hat auf überraschend pragmatische Weise versucht, das Beste aus dem Trümmerfeld zu machen, das ihm 2015 die Nea Dimokratia und die sozialdemokratische PASOK hinterlassen haben, die sich seit 1974 an der Regierung abgewechselt haben und das Land in die Krise führten. Und das Resultat von viereinhalb Jahren Tsipras lässt sich sehen: Das Land wächst ein klein wenig, es erwirtschaftet stabile (Primär)überschüsse, die Unterschiede zwischen Arm und Reich nehmen ab und nicht zu, und durch die etwas verminderte Bürokratie ist das Land ein klein wenig investorenfreundlich geworden. Aussenpolitisch ist das Land stabil und zumindest mit einem Nachbar (Nordmazedonien) sind die bilateralen Probleme gelöst. Und das geschah mit einer hauchdünnen Regierungsmehrheit und einem einschränkenden Korsett der Geldgeber. Wird es Mitsotakis besser machen? Ich prognostiziere: Nein! Und falls ich griechischer Bürger wäre und ein Stimmrecht hätte, würde ich erstmals SYRIZA wählen.
Warum ist es dennoch wahrscheinlich, dass die Nea Dimokratia gewinnt, eventuell sogar mit einer absoluten Mehrheit? Es sind zwei Faktoren, die beide Mitsotakis und seine Partei begünstigen, während sie SYRIZA schaden. Der erste Faktor ist die Auflösung von drei parlamentarischen Kleinparteien (die rechtspopulistische Anel, die liberale Potami und die Zentrumsunion). Sie wurden mehrheitlich von Tsipras an die Wand gespielt, aber deren Wähler wurden offenbar weitgehend von der ND aufgesaugt. Der zweite Faktor ist das Thema Mazedonien. Obwohl die Neue Züricher Zeitung (NZZ) das Gegenteil behauptet: Das Thema ist vor allem in Nordgriechenland nach wie vor virulent. Der Geist, den Samaras anfangs der 90er Jahre aus der Flasche geholt hat, ist immer noch draussen. Es gibt zwar keine Demonstrationen mehr, aber virulent ist das Thema gerade in Nordgriechenland trotzdem. Dass Tsipras das Risiko eingegangen ist, sich durch dieses Abkommen unpopulär zu machen, rechne ich ihm hoch an. Bei den Wahlen dürfte es ihm aber schaden. Und dass Mitsotakis damals voll in die nationalistische Kerbe gehauen hat, verspricht für sein Wahlprogramm nichts Gutes.