Es war „das dramatischste Ereignis in der Geschichte des Schweizer Bundesstaates“, sagte Bundespräsident Alain Berset am Freitag bei der Eröffnung der Ausstellung in Zürich. „Der Frieden stand auf der Kippe“, heisst es dazu in einer Dokumentation des Landesmuseums.
Der dreitägige Landesstreik von 1918 „hätte sich wohl in anderen Ländern in einen Bürgerkrieg verwandelt. Nicht so in der Schweiz“, erklären die Kuratoren der Ausstellung im Landesmuseum. „Hier siegte letztlich auf beiden Seiten die Vernunft.“
Der November 1918 ist ein ereignisreicher Monat, der auf das ganze 20. Jahrhundert ausstrahlt:
- In Deutschland findet nach dem „Kieler Matrosenaufstand“ die „Novemberrevolution“ statt. Sie führt zum Sturz Kaiser Wilhelms II. und schliesslich zur Bildung der „Weimarer Republik“.
- Am 11. November wird in einem Eisenbahnwagen in Compiègne das Ende des Ersten Weltkriegs besiegelt.
- Am 11. November verzichtet der österreichische Kaiser Karl I. auf den Thron. Zuvor hatte Ungarn den Austritt aus der k. u. k. Doppelmonarchie erklärt. Damit war das Habsburgerreich zerfallen.
- Am 3. November besetzen italienische Truppen das bisher österreichische Südtirol (Alto Adige).
Ein Jahr zuvor hatten in Russland die Bolschewiken unter Lenin die Macht übernommen. Die Erschütterungen, die dieser Putsch auslöste, sind 1918 mehr und mehr auch in Westeuropa zu spüren.
Vor diesem Hintergrund findet in der Schweiz ein Ereignis statt, das unser Land teilweise bis heute prägt.
Am 12. November 1918 streiken über 250’000 Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie fordern unter anderem die AHV, das Frauenstimmrecht, die 48-Stundenwoche.
Die Mächtigen im Land fürchten einen bolschewistischen Umsturz. Die Armee wird aufgeboten, und den Streikenden stehen 95’000 Soldaten gegenüber.
Wie konnte es dazu kommen? Mit dem zu Ende gehenden Ersten Weltkrieg pochen die Arbeiterinnen und Arbeiter immer mehr auf ihre Rechte. Breite Bevölkerungsschichten leiden unter sozialer Not und Missständen. Im letzten Kriegsjahr ist in den Städten über ein Viertel der Bevölkerung von staatlicher Lebensmittelunterstützung abhängig.
Da und dort kommt es zu Streiks verzweifelter Arbeiterinnen und Arbeiter. In Zürich organisieren Frauen im Juni 1918 vor dem Kantonsparlament eigentliche „Hungermärsche“. Zudem erfasst die „Spanische Grippe“ auch die Schweiz. Zwei Millionen Menschen, also mehr als die Hälfte der Bevölkerung, erkranken, 25’000 sterben.
Das Bürger- und Unternehmertum fürchtet einen Umsturz. Genährt wird diese Angst dadurch, dass sich ein Teil der Sozialdemokraten radikalisiert hat. Vor allem General Ulrich Wille warnt unermüdlich vor einer kommunistischen Gefahr und lässt Zürich militärisch besetzen. Das sehen viele als Provokation und als letzten Grund für den Ausbruch des Generalstreiks.Im Bild Ulrich Wille während des 1. Weltkriegs, undatierte Aufnahme. (Foto: Keystone/IBA-Archiv/Str)
In der Ausstellung im Landesmuseum werden Ursachen und Verlauf der Ereignisse auf übersichtliche, informative und anregende Art dargestellt. Die Kuratoren der Schau, Pascale Meyer vom Landesmuseum und Christian Koller vom Schweizerischen Sozialarchiv, betonen: „Während des mehrtägigen Landesstreiks drohte das Land auseinanderzubrechen, zum ersten Mal seit der Gründung des Bundesstaates 1848.“
Wie kam es dazu? Bereits während des Ersten Weltkrieges finden in der Schweiz hunderte lokaler und regionaler Streiks statt.
Im Februar 1918 wird das „Oltener Aktionskomitee“ unter dem Linkssozialisten Robert Grimm gegründet. Dabei ist auch der spätere, erste sozialdemokratische Bundesrat Ernst Nobs. Das Komitee droht mit einem Generalstreik und ruft zu Teuerungsdemonstrationen auf.
Im Herbst spitzt sich die Situation zu. Die Ausstellung im Landesmuseum ordnet die Ereignisse anhand einer grossen Timeline ein. Am 30. September tritt das Zürcher Bankenpersonal (also keine Arbeiter) in den Ausstand und fordert eine Lohnerhöhung. Dieser Streik gilt als Generalprobe für den Landesstreik.
Auftrieb erhalten die Streikwilligen durch die Eidgenössische Volksabstimmung vom 13. Oktober 1918. Entgegen der Empfehlung von Bundesrat und Parlament sprechen sich 66,8 Prozent der Stimmenden für die Abschaffung des Majorz- und für die Einführung eines Proporzsystems bei den Nationalratswahlen aus. Damit geht die seit 1848 bestehende freisinnige Hegemonie zu Ende. Die Sozialdemokraten gewinnen an Einfluss.
Am 4. November fordert General Wille ein Militäraufgebot für die grossen Städte. Am Tag danach ordnet der Zürcher Regierungsrat die militärische Besetzung von Zürich an. Die Truppen erhalten Handgranaten und werden aufgefordert, auf widerspenstige Zivilisten zu schiessen. Die Soldaten tragen erstmals Stahlhelme.
Bei Zusammenstössen zwischen Demonstranten und der Armee wird am 10. November auf dem Zürcher Münsterhof eine Person getötet. Es herrscht eine „fast bürgerkriegsähnliche Stimmung“ (Historisches Lexikon der Schweiz).
In Zürich stehen am 12. November 20’000 schwer bewaffnete Soldaten, in Bern sind es 12’000. Das Bundeshaus wird militärisch abgeriegelt.
Am 13. Oktober stellt der Bundesrat der Streikleitung ein Ultimatum. Gefordert wird der sofortige Streikabbruch. Gleichzeitig verspricht die Landesregierung auch soziale und politische Reformen.
Die Streikleitung geht auf das Ultimatum ein und fordert zum Streikaufbruch auf. „Wer weiss, welche Wendung die Schweizer Geschichte genommen hätte, wenn das Oltener Aktionskomitee den Streik nicht abgebrochen hätte“, sagte Bundespräsident Berset bei der Eröffnung der Ausstellung. Am 15. November wird wieder fast überall gearbeitet. Das gefällt im Oltener Komitee nicht allen.
Ernst Nobs erklärt: „Es ist zum Heulen. Niemals ist schmählicher ein Streik zusammengebrochen. Zusammengebrochen nicht unter den Schlägen des Gegners, ... sondern an der feigen treulosen Haltung der Streikleitung.“
In Grenchen erschiessen Ordnungskräfte drei Streikende, und zwar als der Streik schon zu Ende war.
Das Maschinengewehr, das in Grenchen im Einsatz war, ist eines der Exponate, das im Landesmuseum ausgestellt ist. Zu sehen sind zudem riesige zeitgenössische Fotos, Filmausschnitte, Plakate, Briefe, Zeitungsausschnitte, Propagandaschriften – und der Armee-Hut von General Wille. Ausgestellt ist auch ein am 22. Oktober 1918 in Altdorf geschriebener Brief eines Knaben: „Am 10. Oktober bekam ich Fieber. Die Grippe war da. Zwischen 39 und 40 Grad Fieber, vier Tage lang ...“
Nach dem Streikende defilieren am 16. November in Zürich Soldaten vor General Wille und Oberstdivisionär Sonderegger.
Robert Grimm wird zu sechs Monaten Gefängnis und Ernst Nobs zu vier Wochen Haft verurteilt.
Im Zusammenhang mit dem Landesstreik werden Frauen kaum erwähnt. Viele von ihnen beteiligten sich, zum Teil in führender Position, aktiv an den Vorbereitungen und am Streik selbst. Wegen der hohen Lebensmittelpreise gab es in Bern „Kartoffelkrawalle“, die von Frauen angeführt wurden. Die Not hatte viele Frauen politisiert. Viele traten der SP bei, wo sie sich organisierten. Zu den Aktivistinnen gehörte die Fabrikarbeiterin und Jungsozialistin Anny Klawa-Morf (Foto: Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich). Rosa Bloch-Bollag war in den ersten Wochen als einzige Frau Mitglied des Oltener Aktionskomitees, trat dann aber wegen der hohen Reisekosten aus.
Der Streik hat viel bewirkt. Bundespräsident Felix Calonder stellte sozialpolitische Massnahmen und eine Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten in Aussicht. Die 48-Stundenwoche wurde 1920 eingeführt. Die AHV wurde in die Verfassung aufgenommen, aber erst zwanzig Jahre später eingeführt. Die Einführung des Frauenstimmrechts liess auf sich warten. Vor allem deshalb, weil bei Abstimmungen in Kantonen das Vorhaben massiv abgelehnt wurde, und zwar, wie der Ausstellungsmacher Christian Koller erklärte, „von allen politischen Schichten, auch von den Sozialdemokraten“.
Immer wieder wurde versucht, den Landesstreik politisch zu instrumentalisieren. Behauptet wurde, Robert Grimm habe mit Lenins Unterstützung „eine bolschewistische Schweiz“ aufbauen wollen. Nichts deutet darauf hin, dass dem so war. Im Bild: Robert Grimm, ca. 1925. (Foto: Schweizerisches Sozialarchiv)
Entstanden ist diese Legende, nachdem der exilrussische Schriftsteller Serge Persky nachweislich ein Dokument fälschte. Er behauptete, Lenin habe geplant, „eine sowjetische Schweiz“ zu errichten. Perskys Vorwürfe waren in der Gazette de Lausanne unter dem Titel „Le plan de terrorisme en Suisse“ erschienen.
Eine grosse Untersuchung der Bundesanwaltschaft fand 1918 keinerlei Belege für eine Zusammenarbeit des Streikkomitees mit den Sowjets. Das hindert Ex-Bundesrat Blocher und die Seinen nicht daran, diese Legende weiter zu verbreiten. Blocher sagte, Grimm habe „den revolutionären bewaffneten Umsturz ... nach sowjetischem Vorbild“ gewollt.
Alle ernst zu nehmenden Historiker, die sich auf Fakten berufen, verneinen dies. Für sie gilt noch immer das wissenschaftlich fundierte Standardwerk des Historikers Willi Gautschi (Benziger Verlag, 1968, Neuauflage: Chronos-Verlag). Gautschi sagte: Beim Landesstreik handelt es sich um keine verhinderte Revolution.
Welche Lehre ziehen wir heute aus diesen dramatischen Ereignissen von 1918: „Es braucht den Willen zum Kompromiss“, sagt Bundespräsident Berset am Freitag. Sonst würden sich auch in der Schweiz die Konflikte zuspitzen. „Wir sind eine Kompromissnation – oder wir sind keine Nartion.“