Antaios, der griechische Halbgott, war unbezwingbar, wenn er mit seinen beiden Füssen auf der Erde stand. Barfüssige Bodenhaftung bedeutete Stärke. Wir gewöhnlichen Erdenbewohner, zumindest viele von uns, geben diese direkte Berührung schon mit Kindesbeinen auf.
Den aufrechten Gang teilen Menschen bekanntlich mit anderen Tieren, vor allem den Primaten. Aber Primaten tragen – von sich aus – keine Schuhe. Wir dagegen wachsen sozusagen in Schuhe hinein, wir wachsen in Schuhen auf. Der Schuh ist eine der ältesten Technologien, Vehikel zu einer Mobilität, die das Barfüssige überschreitet. Der Schuh definiert mein Gehverhalten und das Gehverhalten definiert auch die Anatomie meines Fusses. Paläoanthroplogische Funde bezeugen die Änderung des Fussskeletts aufgrund des Tragens von Schuhwerk. Ja, wir entwickeln nicht nur ein äusserliche Beziehung zu dieser Technologie – sie ist nicht einfach Hilfsmittel –, sondern auch eine innerliche; sie gehört zu unserer Anatomie. Als Beschuhte erfahren wir den Schuh unmittelbar als Teil unserer selbst.
Der amputierte Schuh
Das musste das Mädchen Marie im Andersen-Märchen «Die roten Schuhe» auf makabre Weise erfahren. Marie erhält ein paar schöne rote Lederschuhe geschenkt, die sie nun überallhin trägt, unbesonnenerweise auch in den Gottesdienst. Wodurch das Mädchen nicht nur die kirchliche Sitte stört (man trägt schwarze Schuhe), sondern Missachtung der kosmischen Ordnung bekundet. Zur Strafe entwickeln die Schuhe eine Eigenmacht. Sie wachsen an ihren Füssen fest, und als Marie einmal zu tanzen beginnt, muss sie unaufhörlich weitertanzen, bis über ihren Tod hinaus. Sie bittet einen Scharfrichter, die Füsse abzuschlagen, aber selbst von ihr getrennt tanzen die Füsse in den Schuhen weiter.
In schon fast unheimlich anmutender Voraussicht zeichnet hier Andersen einen Charakterzug der Technologie, den Marshall McLuhan im 20. Jahrhundert als Ambivalenz von Erweiterung und Amputation charakterisiert: Technik erweitert menschliche Fähigkeiten und beschneidet sie gleichzeitig; und zwar in dem Masse, in dem das Gerät Macht über den Nutzer gewinnt, oder besser: indem der Nutzer das Gerät Macht auf ihn ausüben lässt. Wie in aller Technologie steckt in den Schuhen auch Magie. Altbekannt ist die mythologische Bedeutung des Schuhs: die geflügelten Sandalen von Hermes, die in Götterhöhen führen. Der Zauber der gläsernen Schuhe hebt Aschenputtel aus den erbärmlichen Niederungen der Küche in die noble Welt der Privilegierten.
Wenn Philosophen sich an Schuhen vergreifen
Der Schuh ist nicht bloss Gebrauchsgegenstand, sondern auch Objekt der Kunst. Van Gogh schien gebannt zu sein von altem, ausgetretenem Schuhwerk, und in seinem unverwechselbaren pastosen Stil malte er eine Bildserie von Schuhpaaren mit intensiver Ausstrahlungskraft. So intensiv, dass ein Philosoph wie Martin Heidegger an einem Bild von Van Gogh exemplarisch den Ursprung des Kunstwerks zu demonstrieren suchte: nämlich als Auferstehung des alltäglichen Gebrauchsgegenstandes – des «Zeugs» – zum weihevollen «Ding» im «Geviert» von Erde und Himmel, Sterblichem und Göttlichem. Im O-Ton klingt das dann so: «Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeugs starrt die Mühsal der Arbeitsschritte. In der derbgediegenen Schwere des Schuhzeugs ist aufgestaut die Zähigkeit des langsamen Ganges durch die weithin gestreckten und immergleichen Furchen des Ackers (…) Unter den Sohlen schiebt sich hin die Einsamkeit des Feldweges durch den sinkenden Abend. In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stilles Verschenken des reifenden Korns und ihr unerklärtes Sichversagen in der Brache des winterlichen Feldes.»
Und so weiter im Heidegger-Modus. Der Philosoph verkitscht die Schuhe von Van Gogh mit seiner Vorstellung der vorindustriellen Existenzform: der Erdzugewandtheit, Bodenständigkeit, Schollenfrömmigkeit ursprünglichen bäurischen Daseins – ungeachtet der Tatsache, dass Van Gogh nicht bäurische, sondern die eigenen Schuhe malte. Heidegger vergreift sich an seinem Beispiel. Unter Philosophen ein gar nicht so seltenes Vergehen.
Lerne den Schuh richtig kennen – über die Sprache
Im Roman «Unterwelt» von Don DeLillo versucht ein jesuitischer Priester, Vater Paulus, einen jungen Delinquenten, Nick Shay, den engen Zusammenhang von Sprache und Verfeinerung der Wahrnehmung zu lehren. Die Erziehung, klagt Vater Paulus, lege viel zu grossen Wert auf abstrakte Ideen: «Ewige Wahrheiten links und rechts. Es würde dir mehr bringen, deine Schuhe anzuschauen und ihre Bestandteile aufzuzählen.» Nick beginnt: Schnürsenkel, Sohle und Absatz, Vorderseite und Oberseite. Aber dann zwingt der Priester ihn, genauer hinzuschauen: «Wie heisst der Lappen unter den Schnürsenkeln?» Die Zunge. Und Nicks Schuhbild wird differenzierter. Er lernt Hinterkappe, Seitenleder, Vorderblatt, Öse, Senkelblech, Ösenkranz kennen. Vater Paulus’ Lektion: Wir schulden einem «niederen» Objekt wie dem Schuh ebenso grosse Pietät wie dem «hohen» transzendenten Objekt religiöser Betrachtung. «Die Alltagsdinge sind das verkannteste Wissen.» Der Schuh entpuppt sich auf einmal als ein komplexes Universum aus Sprache, Technologie und Geschichte. Und wie das Schuhbild im Besonderen, so das Weltbild im Allgemeinen: Man lernt durch Differenzierung des Blicks eine andere Form von Weltfrömmigkeit: Jedes Ding verdient seinen eigenen Respekt, und zwar gerade nicht als Warenfetisch der Modebranche.
«Don’t step on my blue suede shoes»
Zweifellos nützt die Modebranche einen anderen Aspekt des Schuhs weidlich aus: Schuhstile sind Lebensstile. Identitätsstifter. Ich bin meine Schuhe und die Schuhe sind ich. Wer bin ich und wenn ja, wie viele Schuhe habe ich? Imelda Marcos hatte viele Ichs. «Ich möchte nicht in deinen Schuhen stecken» bedeutet «Ich möchte nicht du sein». Wie Elvis sang, kann ich ihn niederschlagen, in sein Gesicht treten, ihn überall verunglimpfen, alles mit ihm machen – nur eines nicht: auf seine blauen Wildlederschuhe treten. Denn dann treffe ich ihn sozusagen im Sanktuarium seiner persönlichen Identität.
A propos Sanktuarium: Die grossen religiösen Traditionen betrachten den Schuh als etwas Entheiligendes. Gott fordert im brennenden Dornbusch Moses auf, die Schuhe auszuziehen, bevor er den geheiligten Boden betrete. Muslime, Sikhs und Hindus entledigen sich ihrer Schuhe vor den Gebetshäusern. Wahrscheinlich auch aus hygienischen Gründe, denn an Schuhen sammeln sich Dreck und Keime, welche den sakralen Ortes besudeln.
Trägt der Papst Prada?
Schuhe sind kirchliche Statussymbole. Päpste treten gewöhnlich in rotem Schuhwerk auf, Zeichen der Macht. Die Farbe soll zugleich an das Blut Christi und sein Martyrium erinnern. Nicht zuletzt dürften Mode und Eitelkeiten ihre stille Rolle spielen. Benedikt XVI. favorisierte grellrote Schuhe aus feinem Kalbsleder, gefertigt vom Schuhmacher Adriano Stefanelli in Novara. 2007 ernannte das Magazin «Esquire» den Papst zum «Accessoirträger des Jahres» und es wurde spekuliert, ob er die Schuhe von Prada machen liesse. Das fand der «Osservatore Romano» gar nicht lustig, und er wies die Vermutung pikiert zurück «als Frivolität, charakteristisch für ein Zeitalter, das trivialisiert und nicht versteht». Versteht der neue Papst, Franziskus, auch nicht? Er trägt nämlich triviale schwarze Schuhe, womit er zu verstehen geben dürfte, dass ihm in Bodennähe wohler sei als in der Höhenluft moderig-klerikaler Symbolik.
Schuhe aus Bohnen
Der Schuh hinterlässt bekanntlich einen Abdruck auf der Erde. Und dieser Abdruck hat heute tunlichst ökologisch zu sein. Das ist die neue Herausforderung des nachhaltigen Schuhdesigns. Ein Projekt stammt vom Sportschuhhersteller On: ein rezyklierbarer Schuh. Er basiert auf Rhizinusbohnen. Er hat nicht die übliche lineare Laufbahn Kauf–Gebrauch–Abfall. Wie On schreibt: «Wir wünschen uns für unsere Produkte ein anderes Schicksal. In einem Backloop-System werden Produkte zu Rohstoffen für neue Produkte. Sie kommen buchstäblich zurück an die Startlinie (…), ein zirkulärer Produktlebenszyklus. Bei solchen Produkten entsteht kein Abfall, und die Umweltauswirkungen sind deutlich geringer. Und der Weg zur Mülldeponie? Der ist nun umgewandelt in einen zirkulären Prozess: Produzieren, Verwenden, Wiederverwenden, Produzieren …»
Das liesse sich visionär weiterspinnen: Essbare Schuhe. Nachdem man sie eine Zeitlang getragen hat, verspeist man sie. Individuell vorgewürzt durch das Tragen. Wie gesagt, es handelt sich um ein Projekt. An Projekten lassen sich Mentalitätswandel ablesen. Spinnen wir die Rezyklieridee ein bisschen spekulativ weiter. Sie führt uns zu Antaios zurück. Zum Erdkontakt. Oder genauer: zu einem anderen Erdkontakt. Denn schliesslich landen auch traditionelle Schuhe via Abfall wieder in der Erde. Und vielleicht – entsorgen wir dereinst den Bohnenschuh – pardon – via Defäkation. Nachhaltigkeit pur. Sofern man den Kot entbakterisiert. Aber das ist ein anderes hundskommunes Thema. [1]