In der Türkei ist er noch immer ein Held. Man nennt ihn den türkischen Jean-Paul Belmondo. Oder den kurdischen Marcello Mastroianni. In über hundert Filmen spielte er die Hauptrolle. Dann hatte er begonnen, als Regisseur selbst Filme zu realisieren.
Und jetzt, 1974, sitzt er mit seiner Filmequipe in einem Restaurant. Am Nebentisch befindet sich ein Staatsanwalt mit seinen Bodyguards. Ein Streit bricht aus. Der Staatsanwalt nennt die Frau des Regisseurs eine Prostituierte. Schüsse fallen. Der Staatsanwalt wird tödlich getroffen. In einem absurden Prozess wird der Regisseur zu 19 Jahren Gefängnis verurteilt. Aus welcher Waffe die Schüsse stammten, wurde nie untersucht.
Besuch im Gefängnis
Aus dem Gefängnis heraus realisiert der Verurteilte nun seine Filme. Er schreibt Drehbücher und gibt einem Regisseur genaue Anweisungen, wie, wo und mit wem der Film gedreht und geschnitten werden soll. In der Zelle schaut er sich Arbeitskopien an und gibt Korrekturaufträge.
Er baut ein Filmproduktionssystem auf, „das bis heute seinesgleichen sucht“, schreibt Edi Hubschmid in seiner eben veröffentlichten Biografie des türkischen Filmemachers Yilmaz Güney. (1)
Der junge Zürcher Filmproduzent Hubschmid hat Güney vier Jahre begleitet, ihn im Gefängnis von Isparta besucht. Und er war einer seiner Fluchthelfer. Vor allem aber hat er wesentlich zur Entstehung des Films „Yol“ beigetragen, der am Filmfestival von Cannes die Goldene Palme erhielt.
Wie ein Agententhriller
Hubschmids farbig geschriebenes Buch liest sich streckenweise wie ein Agententhriller. Da wird eine aufregende Flucht organisiert, da wartet man voller Angst in einem Pinienwald an der südtürkischen Küste auf ein Fluchtboot. Da wird eine schweizerische Identitätskarte gefälscht, da werden die türkischen Behörden ausgetrickst, da wird die Schweizer Grenze illegal übertreten, da versteckt man sich am Greifensee, schüttelt türkische Schergen ab. Da verlässt man eine Kinovorstellung, weil sich Häscher im Dunkeln eingeschlichen hatten. Das Buch, mit vielen Fotos versehen, ist sehr persönlich, doch gerade das macht es so fesselnd, authentisch und menschlich.
Doch beginnen wir von vorn. Edi Hubschmid und seine Zürcher Produktionsfirma „Cactus-Film“ interessierten sich schon früh für die türkische Filmszene. Deshalb war Hubschmid 1980/81 öfters in der Türkei unterwegs. Das besondere Interesse galt Yilmaz Güney, der aus dem Gefängnis heraus zwei grosse Filme realisiert hatte: Sürü (1978) und Düsman (1979). Jetzt sollte ein neuer Film entstehen, und Cactus wollte ihn produzieren.
18 Kilometer Filmmaterial
Yilmaz machte keinen Hehl daraus, marxistische Ideen zu vertreten. Bei seinen Filmen ging es immer um Landflucht, Unterdrückung, Entwurzelung und politische Repression. Immer wieder geriet er in Konflikt mit den Behörden und wurde festgenommen. 1972 steckte man ihn wegen der Unterstützung „terrorverdächtiger Studenten“ für zwei Jahre ins Gefängnis. Kurz nach seiner Entlassung ereignete sich die Schiesserei mit dem Staatsanwalt und seinen Bodyguards.
„Yol“, der neue Film, den Yilmaz aus dem Gefängnis heraus drehen wollte, erzählt das Schicksal von fünf Häftlingen. 1980 besuchte Edi Hubschmid Güney zum ersten Mal. Man war sich schnell einig. Es war die Zeit nach dem 12. September 1980, an dem sich das Militär an die Macht geputscht hatte. Hubschmid und sein Bruder transportierten mit einem Ford Transit 35-mm-Rohmaterial, Scheinwerfer und einen Generator nach Istanbul. Im Mai 1981 waren die Dreharbeiten beendet. Hubschmid fuhr mit 18‘000 Metern belichtetem 35-mm-Material zurück in die Schweiz, wo das Zelluloid in Genf entwickelt wurde. Ziel war es, den Film in der Schweiz nach Anordnungen von Güney zu schneiden. Dann sollte ihm eine Arbeitskopie ins Gefängnis geschickt werden. Korrekturwünsche würde er dann wieder in die Schweiz übermitteln. Doch es kam anders.
Flucht am Opferfest
Güney entschied sich zu fliehen, und die Cactus-Filmproduzenten wurden nun plötzlich zu Fluchthelfern. An „Bayram“, dem türkischen Opferfest, dürfen traditionell jene Häftlinge, die sich im Gefängnis gut verhalten, für einige Tage ihre Familien besuchen. Güney benutzte die Gelegenheit. Nun galt es, ihn ausser Landes, nach Paris, zu schaffen.
In den Plan eingeweiht wurde der französische Innenminister Gaston Defferre, sowie Melina Mercury und Jules Dassin. Finanziert wurde das Unternehmen unter anderem vom Zürcher Kunstmäzen Georg Reinhart, der 70‘000 Dollar zahlte und eine Bankgarantie von 200‘000 Franken ausstellte. Nun beginnt die dramatischste Episode in dem Buch.
Doch das Fluchtboot kam nicht
Es ging nicht nur darum, Güney zur Flucht zu verhelfen: auch seine Frau und seine zwei Kinder mussten aus dem Land geschafft werden. Da griffen Erika und Moritz de Hadeln, die damaligen Direktoren des Filmfestivals von Nyon, zu einer List. Sie luden die Frau von Güney und seine Kinder an den Genfersee ein – unter dem Vorwand, in Nyon würde eine Retrospektive von Güneys Filmen gezeigt. Die nichtsahnenden türkischen Behörden, die den Regisseur im Gefängnis wussten, stellten ein Ausreisevisum für seine Frau aus. Es gab in Nyon nie eine Güney-Retrospektive, eine solche war auch nie geplant.
Jetzt also traf Güney in Kemer ein, einem Badeort an der türkischen Südküste. Dort sollte in einer einsamen, idyllischen Bucht eine Yacht anlegen, die den Regisseur aufnahm und nach Marseille transportierte. Die Fluchthelfer zitterten vor Angst, entdeckt zu werden. Hubschmid und Güney sassen in einem Pinienwald am Meer und warteten – doch das Fluchtboot kam und kam nicht.
Züritüütsch an der Passkontrolle
„Yilmaz und ich sprachen nur wenig, rauchten dafür viel und bestärkten uns gegenseitig darin, dass sich alles zum Guten wenden würde“, schreibt Hubschmid. „Dann nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte die Yacht auf. Unsere Yacht.“ Die Crew hatte alle radarreflektierenden Metalle abgeschraubt, um von der Küstenwache nicht geortet zu werden.
Die Fahrt nach Marseille erwies sich als unrealistisch. Also fuhr man nach Rhodos. Mit einer gefälschten Schweizer Identitätskarte checkte Güney zusammen mit Hubschmid nach Athen und dann nach Paris ein. An der Passkontrolle gaben sie sich als gute Deutschschweizer aus. Hubschmid lehrte Güney einige Worte Züritüütsch, die er dann vor dem Beamten aufsagte: „Ich bueche dänn fürs nächschti Jahr wieder i däm Hotel. Und du, was meinsch? – „S’Ässe isch eifach super gsi. Nur s Zimmer will i dänn mit em Balkon uf d Südsite.“ Hier zeigte sich, dass Güney Schauspieler war und schnell Dialoge lernen konnte. Der Passbeamte liess die beiden passieren.
Unterschlupf am Greifensee
In der Zwischenzeit fliegt Güneys Frau mit den Kindern und einem gültigen Ausreisevisum von Istanbul nach Zürich. Die Familie und Hubschmid treffen sich kurz darauf in Marseille, wo die Polizei auf Anordnung des in den Plan eingeweihten Innenministers den Geflüchteten eine „Carte de séjour“ ausstellt.
Jetzt zieht man nach Zürich. Im Sommerhaus der Familie Reinhart am Greifensee bei Zürich erhält die Familie Unterschlupf. Dort wurde auch schon ein Schneidetisch eingerichtet. Nun, der Bayram war zu Ende, erfuhr man in der Türkei von der Flucht. Es war bekannt, dass Güney mit der Zürcher Cactus-Film in Kontakt stand. Deshalb fürchtete man am Greifensee von türkischen Schergen entdeckt zu werden. So gab man Zürich als Standort auf und zog nach Divonne-les-Bains am französischen Ufer des Genfersees. Dort schnitt Güney mit der Cutterin Elizabeth Waelchli und ihrer Assistentin Laura Montoya den Film. Mitfinanziert wurde das Unternehmen vom Schweizer Fernsehen und dem Südwestrundfunk Stuttgart.
Haftbefehl via Interpol
Am 14. Mai 1982 begann das Filmfestival von Cannes. Yol war der Eröffnungsfilm. Er löste bei den Kritikern und dem Publikum Begeisterung aus. In den Zeitungen stand, dass der Regisseur persönlich in Cannes anwesend war. Das wurde zum Sicherheitsrisiko. Die Türkei schickte über Interpol einen Haftbefehl. Gleichzeitig mobilisierte das französische Innenministerium zwei Bodyguards zum Schutz von Güney.
Während des Festivals besuchte Güney einen Film. Kurz bevor das Licht im Kino ausging, tauchten vier breitschultrige Gestalten auf, die wie robuste Kleiderschränke wirkten und „nicht sonderlich cinéphil aussahen“. Im Dunkeln flüchtete Güney, begleitet von seinen Bodyguards, aus dem Saal.
„Freie, demokratische Türkei“
Während des Festivals demonstrierten auf der Croisette 400 Kurden für ein freies Kurdistan. Damit die Demonstranten nach Cannes reisen konnten, zahlte die Cactus-Film aus der Produktionskasse den Manifestanten 5‘000 Franken.
Nach langem Warten kam in der Nacht auf den 26. Mai die Erlösung mit der Meldung, dass „Yol“ ex aequo mit „Missing“ die Goldene Palme gewonnen hatte.
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt, Güney gelang es nicht mehr, einen grossen Film zu realisieren.
Einmal sagte er zu Hubschmid: „Edi, eines Tages werden wir in eine freie, demokratische Türkei zurückkehren und es wird ein grosses Fest geben. Sie werden uns wie Könige empfangen, und dann werde ich Dir unser Land zeigen. Es wird Dir gefallen.“
Dazu kam es nicht. Am 9. September 1984 starb Güney mit 47 Jahren in einem Pariser Spital an Magenkrebs. Er wäre jetzt 80 Jahre alt. Und vielleicht hätte er neunzig oder hundert werden müssen, um in der „freien, demokratischen Türkei“ wie ein König empfangen zu werden.
(1) Edi Hubschmid: „Yol – Der Weg ins Exil. Meine Begegnung mit Yilmaz Güney“. Publishing Partners, Biel 2017. 224 Seiten. Das Buch gibt es auch in türkischer und kurdischer Übersetzung.
Die Buchvernissage findet am Donnerstag, 13. Juli um 18.15 Uhr im Filmpodium Zürich, Kino Studio 4, Nüschelerstrasse 11, 8001 Zürich statt. Moderation: Christian Jungen (NZZ)
www.edihubschmid.com