Ein Bundesgericht in Washington DC wirft Donald Trump vor, eine Verschwörung angezettelt zu haben, um nach der Wahlniederlage 2020 um jeden Preis im Weissen Haus bleiben zu können. Die Vorwürfe sind gravierend, dürften jedoch nicht über alle Zweifel hinaus zu beweisen sein. Auch werden sie Trumps Popularität wohl kaum Abbruch tun – im Gegenteil.
«Third time’s the charm», pflegen die Angelsachsen zu sagen und meinen, dass ein Unterfangen nach zwei missglückten Versuchen beim dritten Mal gelingen müsse. Auf Donald Trump trifft das im Fall der dritten Anklage innert vier Monaten nicht zu – im Gegenteil.
Die 45-seitige Anklage von Sonderermittler Jack Smith könnte jener sprichwörtliche Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Denn es geht darin nicht um Schweigegeld für eine Pornodarstellerin oder um zurückbehaltene Geheimunterlagen, sondern, wie es vielfach heisst, um die Zukunft der amerikanischen Demokratie. Trump ist der erste amerikanische Präsident, der eines Verbrechens angeklagt wird, das er im Amt begangen haben soll.
«Im Kern geht es im Fall Vereinigte Staaten von Amerika gegen Donald J. Trump um nichts Geringeres als um die Lebensfähigkeit des Systems, das in jenem Sommer in Philadelphia errichtet wurde», schreibt in der «New York Times» Peter Baker in Anspielung auf die verfassungsgebende Versammlung in Philadelphia im Jahre 1787: «Darf ein amtierender Präsident Lügen über eine Wahl verbreiten und versuchen, die Autorität der Regierung zu nutzen, um den Willen der Wähler ohne Konsequenzen umzustossen? Diese Frage wäre noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen, aber der Fall Trump skizziert ein Schreckensszenario, wie man es eher aus Ländern kennt, in denen es in der Vergangenheit Putsche, Juntas und Diktatoren gegeben hat.»
Die Anklageschrift beginnt mit der Feststellung einer simplen Tatsache: «Der Angeklagte, DONALD J. TRUMP, war der vierundvierzigste Präsident der Vereinigten Staaten und Kandidat für eine Wiederwahl 2020. Der Angeklagte verlor 2020 die Präsidentenwahl.» Der Sturm auf das Capitol in Washington DC am 6. Januar 2021 sei ein noch nie dagewesener Angriff auf den Sitz der amerikanischen Demokratie gewesen, sagte der Sonderermittler nach der Entsiegelung der Anklagepunkte: «Wie in der Anklageschrift beschrieben, war er (der Sturm) durch Lügen angeheizt. Durch Lügen des Angeklagten.»
Donald Trump, so die Anklage, habe gewusst, dass seine Behauptung eines Wahlbetrugs falsch gewesen sei. Er habe sie trotzdem geäussert, «um eine intensive nationale Atmosphäre des Misstrauens und des Zorns zu kreieren und das Vertrauen der Öffentlichkeit in den Wahlvorgang zu untergraben». Mitangeklagt sind sieben ungenannte Co-Verschwörer, unter ihnen wahrscheinlich New Yorks früherer Bürgermeister Rudy Giuliani, nach 9/11 «America’s mayor» und ein Nationalheld, oder die einstige Bundesstaatsanwältin Sidney Powell.
Dem Ex-Präsidenten, so Jake Smith, sei von verschiedener Seite mitgeteilt worden, dass seine Behauptung eines Wahlbetrugs falsch sei. Er habe sie trotzdem geäussert und bei seinem Versuch, den Wahlausgang zu kippen, das Recht auf freie Meinungsäusserung durch sein Verhalten klar verloren. Friedliche Machtübergabe sei ein Eckpfeiler der Demokratie.
Sonderermittler Smith stellt Trump in den Mittelpunkt von drei sich überschneidenden Verschwörungen: einer ersten Verschwörung, die Vereinigten Staaten zu betrügen durch seine Versuche, die Wahlresultate 2020 zu untergraben, einer zweiten Verschwörung, am 6. Januar die Zählung und Beglaubigung der Wahlresultate «korrupt zu behindern» sowie einer dritten Verschwörung, Amerikas Wählerinnen und Wähler zu entmündigen durch seinen Versuch, gültige Stimmen nicht zu zählen. Diese Verschwörungen hätten am 6. Januar 2021 im Versuch gegipfelt, die Rolle des US-Kongresses bei der Ratifizierung des Ergebnisses durch das Wahlmännerkollegiums zu behindern.
Der News-Website Axios zufolge wird Donald Trumps angebliches Komplott zum Umsturz der Wahl zwischen den Zeilen der Anklageschrift in fünf Kategorien unterteilt:
- Druck auf staatliche Gesetzgeber und Wahlbeamte, die Wahlergebnisse mit wissentlich falschen Behauptungen über Betrug zu untergraben;
- Organisation von betrügerischen Wählerlisten in sieben Staaten: Arizona, Georgia, Michigan, Nevada, New Mexico, Pennsylvania und Wisconsin;
- Versuch, die Befugnis des Justizministeriums zu nutzen, um «Scheinuntersuchungen zu Wahldelikten» durchzuführen und Briefe an umkämpfte Bundesstaaten zu schicken, in denen behauptet wurde, dass erhebliche Betrugsverdachtsmomente festgestellt worden seien;
- Versuch, den damaligen Vizepräsidenten Mike Pence unter Druck zu setzen, damit er seine zeremonielle Rolle bei der Auszählung der Wahlmännerstimmen am 6. Januar dazu nutzt, die Bestätigung von Joe Bidens Sieg zu verhindern;
- Ausnutzung der Gewalt und des Chaos am 6. Januar, um Mitglieder des Kongresses davon zu überzeugen, die Bestätigung weiter zu verzögern.
Stichwort Mike Pence: Der ehemalige Vizepräsident, einst Donald Trump unterwürfig ergeben, heute ein Rivale im Rennen 2024 um den Einzug ins Weisse Haus, ist nach der Entsiegelung der dritten Anklage gegen seinen früheren Chef zu einem kritischen Zeugen geworden, der, wie es in der Anklageschrift heisst, «zeitgleiche Notizen» zum Komplott gemacht hat. Nachdem Pence Trump am 6. Januar gesagt hatte, er habe kein verfassungsmässiges Recht, die Stimmen der Elektoren zu missachten, antwortete der Präsident: «Sie sind zu ehrlich.» Jeder, der sich selbst über die Verfassung stelle, dürfe niemals Präsident der Vereinigten Staaten werden, sagt der frühere Vize und hebt sich zur Abwechslung wohltuend mutig von anderen republikanischen Präsidentschaftskandidaten ab, die es weitgehend vermeiden, Donald Trump auch nur annährend zu kritisieren.
So gravierend die Anklagepunkte im Fall des amerikanischen Ex-Präsidenten sind, so schwierig dürfte es für die Strafverfolger in Washington DC werden, im Prozess jenseits aller Zweifel zu beweisen, dass Donald Trump wusste, dass seine Behauptung eines Wahlbetrugs falsch war, und er in der Folge alles unternahm, um im Weissen Haus zu bleiben. Seine Anwälte werden versuchen, jedes sich bietende juristische Schlupfloch auszunützen, und sie werden es tun im Wissen um den Umstand, dass Befragungen zufolge nach wie vor drei von zehn Amerikanerinnen und Amerikanern überzeugt sind, dass Trump 2020 die Wahl gestohlen worden sei.
Sie tun es auch im Wissen, dass eine Anklage und selbst eine Verurteilung grosse Teile der Wählerschaft nicht davon abhalten werden, 2024 für Donald Trump zu stimmen, falls er republikanischer Präsidentschaftskandidat wird. Genau dies lassen Umfragen heute befürchten. Sie zeigen Trump mit einem praktisch uneinholbaren Vorsprung vor seinem nächsten Konkurrenten, Floridas Gouverneur Ron DeSantis.
Trumps Verteidiger argumentieren, er habe gute Gründe gehabt, den Wahlausgang in mehreren Staaten anzuzweifeln, und er habe in der Folge nichts anderes getan, als lediglich legitime rechtliche Optionen zu verfolgen – eine Einschätzung, die 74 Prozent aller Republikanerinnen und Republikanern teilen. Der Sonderermittler, meinen sie, kriminalisiere eine politische Auseinandersetzung – ein Fall von Siegerjustiz.
«Die MAGA-Basis unterstützt Trump nicht trotz seiner Makel», schliesst «New York Times»-Mitarbeiter Nate Cohn: «Sie unterstützt ihn, weil sie nicht glaubt, dass er irgendwelche Makel hat.» In anderen nationalen Befragungen liegt der Ex-Präsident mit seinem Nachfolger Biden bei 43 Prozent Zustimmung nach wie vor praktisch gleichauf.
Donald Trump selbst reagiert auf die jüngste Anklage, wie er es in solchen Fällen stets zu tun pflegt: mit abstrusen Vorwürfen, primitiven Beleidigungen und blanken Lügen. Auf seinem Kurznachrichtendienst «Truth Social» vergleicht er die Beschuldigungen gegen ihn mit «Nazi-Deutschland in den 1930ern, der früheren Sowjetunion und anderen autoritären, diktatorischen Regimen».
Die Gerechtigkeit und die Wahrheit, prophezeit Trump, würden obsiegen: «Die unamerikanische Hexenjagd wird misslingen und Präsident Trump wird ins Weisse Haus wiedergewählt werden, damit er unser Land vor dem Missbrauch, der Inkompetenz und der Korruption retten kann, die in nie zuvor gesehener Intensität durch die Adern unseres Landes kursieren.»
Noch ist unklar, ob und wie sich das jüngste sowie weitere Verfahren auf Donald Trumps Wahlkampf auswirken werden. Insgesamt sieht sich der Ex-Präsident heute bei drei Strafverfolgungen mit insgesamt 78 Anklagepunkten konfrontiert, unter denen viele im Falle einer Verurteilung längere Gefängnisstrafen vorsehen. Würde Trump in allen Anklagepunkten schuldig gesprochen, so müsste er für happige 641 Jahre hinter Gitter. Wobei unter Umständen wenige Jahre ausreichen würden, um Amerikas angeschlagene Demokratie zu heilen und Trumps wahnhafte Anhängerschaft zur Vernunft zu bringen.
Es sei denn, Ironie der Geschichte, Donald Trumps 2024 wiedergewählter Erzfeind und Nachfolger Joe Biden würde ihn begnadigen, wie es Gerald Ford seinerzeit im Falle Richard Nixons tat. Und was sagte der am 17. November 1973 vor 400 versammelten AP-Redaktoren? «Ich bin kein Gauner.» Doch Watergate bewies das Gegenteil. Wenig wahrscheinlich allerdings, dass sich Trump wie Nixon zwar widerwillig, am Ende aber freiwillig aus der Politik zurückzieht.