In Analogie zur Definition des Drecks als Materie am falschen Ort liesse sich Essensabfall als Nahrungsmaterie am falschen Ort – nämlich nicht in unseren Mägen – charakterisieren. Das führt sogleich zur Schlüsselfrage: Was ist eigentlich der «falsche» Ort?
Eine eminent kulturelle Frage. Gewiss, das Verrotten von Nahrungsmitteln ist ein biochemischer Prozess, aber ebenso ein kultureller, sprich definitorischer: Wir setzen Wert und Unwert der Nahrungsmaterie fest. Entweder ist etwas zum Essen oder es ist nicht zum Essen, ergo Abfall. Wenn Menschen Abfall essen, könnte man argumentieren, essen sie etwas, das nicht zum Essen ist. Ein Widerspruch in sich. So scheint es. Aber Weggeworfenes kann immer noch nützlich sein. Tatsächlich werden Essensreste ja ständig weiterverwendet, etwa als Tierfutter, Kompost, zur Fermentation oder Biogasproduktion.
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Der Widerspruch zeigt eine globale Schieflage an. Über fünf Millionen Menschen hungern, und gleichzeitig herrscht in industrialisierten Gesellschaften ein Verschwendungsexzess sondergleichen. In der Schweiz sollen über 20 Prozent der Lebensmittel auf dem Weg vom Feld zum Teller verloren gehen. Derartige Zahlen sind immer strittig, weil aus mehreren Perspektiven deutbar. Zu denken gibt aber ein eindeutigerer Bescheid: Eine grosse «Schuld» an der Verschwendung tragen nicht Lebensmittelindustrie und –handel, sondern wir Endverbraucher in den Haushalten. Pro Person und Jahr werden in der Schweiz über 300 Kilogramm Esswaren weggeworfen.
Das heisst im Grunde: Abfall entsteht im Kopf des Konsumenten. Und dieser Kopf wird von der Werbung ständig und gründlich eingeseift mit Bilden «schöner», «sauberer», «gesunder» Lebensmittel. Die Nahrungsmittelindustrie ist eine Gelüsteindustrie. Früher gab es, was es gab. Heute gibt es nichts, was es nicht gibt. Wer nichtsaisonales Gemüse oder Obst will, kann es haben. Der Retailer muss in seinen Regalen anbieten, was den mehrheitlich künstlich geweckten Kundengelüsten entspricht – und dann nur zu oft im Container landet. Die Fliessbänder der Nahrungsmittelindustrie laufen und laufen und halten unseren Lebensstandard in Gang. Wir können und wollen nicht mehr zu vorindustriellen Ernährungsverhältnissen zurückkehren.
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Das ist auch nicht die Alternative. Sondern ein gewandeltes globales Ernährungsszenario. Ich nenne es «Knappheitsszenario». Es gewinnt durch die russische Agression und die ausfallende Getreideernte in der Ukraine eine unerwartete Dringlichkeit. Europa lebt nicht in Nahrungsknappheit – vorerst jedenfalls nicht –, aber unserer Wahrnehmung von Lebensmitteln schlüge es gut an, wenn man sie sozusagen mit einem gewandelten Vorzeichen versähe: Was wäre, wenn alles knapper würde? Das könnte uns aus einer allzu gedankenlosen schlaraffischen Mentalität aufwecken. Sie ist systembedingt. Wir lernen sie von klein auf. Noch in unserer Grosselterngeneration war es ja Usus, das volle Potenzial von Nahrungsmitteln auszunutzen. Der Keller voller Eingemachtem ist geradezu ein Emblem dafür. Das hatte System – nicht zuletzt kriegsbedingt.
Wir Heutigen dagegen haben den Keller durch den Kühlschrank ersetzt. Und der Glaube, Verschwendung gehöre zu unserem Ess-System, steckt fest in unseren Köpfen. Ein Irrglaube. Die unbequeme Wahrheit ist, dass unserem System die nötige Infrastruktur fehlt, die zu einem klügeren täglichen Essverhalten verhelfen könnte. Zwar steigt oft ein leises Schuldgefühl beim Entsorgen unschöner Salatblätter oder fleckiger Äpfel auf, aber wir unterdrücken es in der Regel. Ein Umweltübel, über das wir nur zu leicht hinwegsehen. Dabei hätten wir jederzeit Gelegenheit, genauer hinzusehen.
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Ich sagte, Abfall entstünde im Kopf. Um der Verschwendung Einhalt zu gebieten, müssten wir deshalb als Erstes das binäre Raster «Hier Essen, dort Abfall» aufgeben, und eine neue Kategorie der Nahrungsmaterie einführen. «Foodwaste» breitet sich bereits im deutschsprachigen Raum aus. [1] Eigentlich ein widersprüchlicher Begriff, nach herkömmlichem Raster. Aber er bezeichnet genau den Bereich, der zwischen Essbarem und Müll liegt. Es gibt Nonprofit-Organisationen wie «Tischlein deck dich» oder Schweizer Tafel, die den Begriff auf ihr Panier schreiben. Es gibt die «Container-Taucher», Leute, die in den Abfallbehältern der Lebensmittelläden nach Foodwaste, also nach durchaus konsumierbarer Ware fischen. [2] Es gibt branchenübegreifende Pläne, die Lebensmittelverschwendung zu reduzieren. [3] Zu den Zielen gehört die Halbierung der Lebensmittelverluste bis 2030.
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Das Knappheitsszenario wirft ein Licht auf die Verkaufsregulationen. Ein bizarres Müsterchen lieferte jüngst eine Obstplantage im Bernischen Konolfigen. Der Umfang der Zwetschgen war um 4 Millimeter zu klein für den Handel geraten, deshalb drohte ihnen die Kategorisierung «Foodwaste». Das motivierte den Obstbauern zu einem kleinen verkaufstechnischen Husarenstück. Er öffnete seine Plantage für alle. Die Ernte von 30 Tonnen war innerhalb eines Tages verkauft. [4]
Selbstverständlich sollen uns Verkaufsregulationen vor kontaminierter Ware schützen. Oft eignen sie sich jedoch wenig, um Essbares und Abfall zu trennen. Ablaufdaten beziehen sich auf die Qualität, und nicht auf die Robustheit von Lebensmitteln. Das Mindesthaltbarkeitsdatum zum Beispiel gibt an, bis wann das Produkt qualitativ einwandfrei bleibt, wenn es richtig gelagert wird. Es bleibt auch über das Datum hinaus essbar. Und eigentlich hat die Natur uns – wie alle Tiere – mit einem recht verlässlichen Prüfapparat für Nahrung ausgestattet: mit den Sinnen. Der Konsumentenschutz empfiehlt ausdrücklich, Lebensmittel nicht unbesehen wegzuwerfen, sondern mit Nase und Augen zu prüfen.
Allerdings lässt die Abhängigkeit von künstlichen Garantien – Mindesthaltbarkeitsdaten, Tiefkühlprodukten, Konservierungsmitteln – unser Sensorium für den Lebensmitteltest verkümmern. Warum riechen, schmecken, betasten, wenn alles auf der Verpackung geschrieben steht? Gewiss, Gammelfleisch stinkt. Aber all die Ingredienzen in den hyperverarbeiteten Hochglanznahrungsmitteln vermögen wir nicht mit unseren Sinnen wahrzunehmen. Dabei sind matschige Tomaten, leicht angefaulte Äpfel, welkes Gemüse oder schimmeliger Käse wahrscheinlich harmloser.
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Mit den modernen Lebensmitteln geht ein Fundus alten Wissens über Verwertung, Konservierung, Fermentation verloren. Das Knappheitsszenario würde also diesen Fundus wiederbeleben, bestenfalls zu mehr Kreativität im Essen motivieren. Das Wegwerfsystem «des Westens» ist eigentlich eine erstaunliche historische Anomalie. In allen Kulturen und zu allen Zeiten ging der Mensch mit den Nahrungsmitteln erfindungsreich und nachhaltig um. Es gibt eine wahre Grossindustrie an Nahrungsmittelverarbeitern, die wir leicht vergessen: die Natur. Hefe, Schimmel, Bakterien wachsen auf Essensresten. Ohne sie gäbe es weder Bier, noch Brot, noch Käse. Einige der verbreitetsten und beliebtesten Speisen – Saucen, Suppen, Aufläufe, Eintöpfe – sind «Deponien» von Essensabfällen.
Kaum überraschend, dass jetzt Spitzenköche eine «Revolution» in der Küche dank Zero Waste verkünden. René Redzepi in Dänemark schwört auf Fermentation und hat ein Handbuch dazu publiziert. Andreas Caminada in der Schweiz will restenlos kochen: «Bei mir gilt für alle: Nichts kommt weg, bevor wir nicht überlegt haben, ob etwas noch anders verwertbar ist (…) Ein welkes Kraut, Hühnerkarkassen oder Gemüseabschnitte kann ich natürlich nicht auf den Teller geben, aber sie machen einen guten Saucenansatz.»
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Die ganze Diskussion verdient durchaus auch eine philosophische Note. Die Kategorie der Nahrungsmaterie zwischen Tisch und Müll lehrte uns ein kritischeres Essverhalten, sie erzöge uns dazu, selber zu urteilen, unseren Sinnen zu trauen, Phantasie zu entwickeln und täglich die Frage zu stellen: Ist das nun wirklich Abfall? Eigentlich müsste man heute das alte Motto der Aufklärung – «wage zu wissen» – für die Ernährung gastrosophisch reaktivieren: Wage beim Essen zu denken. Das wäre ein Anfang. Also intelligenten guten Appetit!
[1] https://foodwaste.ch/was-ist-food-waste/
[2] https://www.nzz.ch/wirtschaft/food-waste-lebensmittel-fuer-den-abfalleimer-ld.1462959?reduced=true
[3] https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/abfall/abfallwegweiser-a-z/biogene-abfaelle/abfallarten/lebensmittelabfaelle.html
[4] https://www.derbund.ch/die-30-tonnen-food-waste-sind-geerntet-528104639122?idp=OneLog&new_user=no