Rote Europa-Linien gibt es auch für die EU, nicht nur für die Schweiz. Diese gelten offensichtlich sogar für das EU-Schwergewicht Grossbritannien.
‘Going down in flames’ mit einer vernichtenden, nicht einer heroischen Niederlage - nur so kann das spektakuläre Scheitern der britischen Fundamentalopposition gegen Jean-Claude Juncker beschrieben werden. Premier David Cameron hatte sinnlos hoch gepokert und hat nun alles verloren. Der von ihm, grundlos, dämonisierte Jean-Claude Juncker wird neuer Kommisssionspräsident – gewählt erstmals - via europäisches Parlament - von allen Europäern. Cameron fand sich anlässlich der Abstimmung im europäischen Ministerrat vom Freitag völlig isoliert. Einzig Victor Orban, der autoritäre ungarische Präsident aus der unappetitlich rechten Ecke unterstützte ihn. Dies wird Cameron auch zuhause eher als Unfähigkeit, denn als Stehvermögen ausgelegt.
So einfach ist das
Aus rein innenpolitischen Gründen, um den euroskeptischen Flügel seiner Partei zu besänftigen, hatte sich Cameron in eine Schlacht geworfen, welche von vorneherein verloren war. Denn nach den jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament war klar, dass der Spitzenkandidat jenes Bündnisses Kommissionspräsident würde, welches die Wahlen gewann. Und das waren die Mitte-Rechts-Parteien mit Jean-Claude Juncker. Auch Mitte-Links signalisierte schliesslich Einverständnis für Juncker. Zusammen verfügen die beiden Bündnisse über eine erdrückende Mehrheit im Parlament. Damit war klar, dass Juncker Präsident wird. So einfach ist das.
Juncker, ein milder und als Luxemburger genetisch programmierter Ausgleichspolitiker, wird damit wichtigste Person in der komplizierten Hierarchie der EU und ihrer wachsenden Aufgaben. Es sind Aufgaben, die die EU von den nationalen auf die kontinentale Ebene gehoben hat.
Britisches Trötzeln
Damit sichern die EU-Staaten ein friedliches Einvernehmen in Europa. Sie wissen, dass die grossen Herausforderungen an unseren Kontinent - Beschäftigung und Innovation, Einwanderung von aussen und Binnenwanderung im Inneren, Klima und Umwelt, militärische und zivile Sicherheit - letztlich nur gemeinsam gemeistert werden können. Sie wissen auch, dass nur ein geeintes Europa sich Platz und Gehör im eben begonnen 21. Jahrhundert, dem “Asiatischen Jahrhundert”, verschaffen kann.
Hätte eine Mehrheit der Regierungschefs dem britischen Trötzeln nachgegeben, wären sich die stimmberechtigen Europäer verschaukelt vorgekommen. Sie sind offensichtlich mit dem gegenwärtig massvollen Integrationskurs in Europa zufrieden.
Das fundamentale Wahlversprechen, den kontinentweiten Mehrheitswillen ernst zu nehmen - und damit einen weiteren und entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einem direktdemokratischeren Europa zu tun - konnte ohne Totalschaden für demokratische Legitimität nicht gebrochen werden. Dies hat Cameron nicht begriffen und damit eine Rote Linie ohne Not überschritten.
Der “Schweiz-Versteher”
Nicht begriffen hat dies offensichtlich auch ein Teil der meinungsbildenden Elite in der Schweiz. Sie glaubt, die EU habe ‘Besseres zu tun, als das UK zum Austritt zu zwingen’. Dies ist gleich doppelt falsch. Auf dem Spiel stand ein EU-Grundsatz. Zudem muss ein englischer Austritt aus der EU keineswegs bevorstehen. Glücklicherweise gibt es auch vernünftige Beurteilungen. Dann nämlich wenn auf Junckers ausgewogene Persönlichkeit hingewiesen wird, der allem Pompösen abgeneigt ist und erst noch als ‘Schweiz-Versteher’ bekannt ist.
Einen verständnisvollen Kommissionspräsidenten wird die Schweiz in den nächsten Jahren auch bitter nötig haben. Wie uns Brüssel, und die wichtigsten EU-Länder seit dem schweizerischen ‘Two-Nine’ am 9.2. unmissverständlich signalisieren, bildet die volle Aufrechterhaltung der Freizügigkeit eine andere Rote EU-Linie. Kontingentierung der europäischen Binnenwanderung durch die Schweiz, bei Aufrechterhaltung freien Marktzutritts ist ausgeschlossen. Je schneller das der schweizerische Souverän begreift, je besser für alle. Dieser Souverän irrt sich bekanntlich nie, kann sich aber durchaus selbst korrigieren und hat dies auch schon oft getan.
Populistische Aussagen
Dies dürfte auch für jenen schweizerischen Wirtschafts-Spitzenvertreter zutreffen, der in einem Interview im “Sonntag” mit allerlei populistischen Aussagen brillierte. So sagte er, der bisher eigentlich nicht im blocherschen Dunstkreis stand, er habe “Mühe mit jenen in seinem politischen Lager, welche den schweizerischen EU-Beitritt befürworten”.
Würde er sich international informieren, und lägen ihm die schweizerischen und europäischen Interessen wirklich am Herzen, so sähe er, dass er gerade unter seinesgleichen, den Chefs der europäischen Weltfirmen, isoliert dasteht. Keine Einziger von ihnen glaubt, dass sein Herkunfts- und/oder Gastland als Aussenseiter besser dastehen würde denn als vollgültiges europäisches Land und damit Mitglied der EU.
Weitere Rote Linie
Wie leider schon oft seit dem 2. Weltkrieg scheint die aussenpolitische Schweiz im Moment in eine weitere Sackgasse zu rennen. Am EU-Gipfel am Freitag wurde nämlich auch beschlossen, Putin bis am kommenden Montag Zeit zu geben, Wirtschaftssanktionen der dritten Generation (Massnahmen gegen gesamte Wirtschaftsbereiche und nicht mehr nur gegen einzelnen Personen) abzuwenden, wenn er endlich dem unheilvollen Umtrieben terroristischer, primär von Russland eingeschleuster Separatisten in der Ostukraine, ein Ende bereitet. Dies hat er trotz salbungsvollen Worten auch - und gerade dem schweizerischen OSZE-Vorsitz gegenüber - bislang nicht wirklich getan. Er nähert sich damit einer weiteren Roten EU-Linie.
Diese Rote Linie ist mit Rücksicht auf mehr (Italien, Frankreich) oder weniger (Zypern, Griechenland, Slowakei) legitime Wirtschaftsinteressen ohnehin schon sehr grosszügig gezogen worden.
De facto eine Parteinahme für Putin?
Die Schweiz wird sich sehr in acht nehmen müssen, hier entgegen ihren wirklichen Wirtschaftsinteressen in der westlichen Welt und ihren politischen Grundwerten nicht auf die falsche Seite einer dünnen Linie zu geraten.
Die kategorische Aussage beispielsweise, Wirtschaftssanktionen seien ohnehin und immer nutzlos, liegt auf der falschen Seite dieser Linie. Denn erstens trifft das Gegenteil zu (erfolgreiche internationale Wirtschaftssanktionen gegen Rhodesien, Südafrika, Myanmar, Iran). Zweitens kann sich die Schweiz ein auch nur minimales Abseitsstehen von westlichen Sanktionsmassnahmen gegen Russland weder wirtschaftlich noch politisch leisten.
Wirtschaftlich ist etwa an die ausserordentlich hohen Kosten im aktuellen Fall der vergleichweise milden Umgehung amerikanischer Boykottmassnahmen durch die französische Bank Parisbas zu erinnern. Politisch wäre die Schweiz bei einer Nichtteilnahme an Massnahmen gegen das Russland von Putin und damit de facto einer Parteinahme für ihn, weder neutral noch ein Rechtsstaat.