Für einmal sind sich Ost und West, China und Amerika in der Beurteilung einig: Lee Kuan Yew war ein ausserordentlicher Staatsmann, innenpolitisch genauso gut wie international. Er war flexibel im Innern, und als geopolitischer Player nutzte er die Schlüssellage Singapurs an der Meerenge zwischen dem Südchinesischen Meer und dem Indischen Ozean. Lee war aber auch ein Brückenbauer zwischen Ost und West. Als Chinese studierte er in Grossbritannien die Rechte, und so waren ihm sowohl die westlichen als auch die asiatischen Werte vertraut.
Singapurs Staatengründer erkannte 1979 als einer der ersten die Bedeutung von Deng Xiaopings Politik der Öffnung und Reform für China. Er kannte von Mao über Deng bis hin zu Xi Jinping alle chinesischen Führer. Als Übersee-Chinese war China für Lee zwar eine Herzensangelegenheit, doch er war nie ein Peking-Sykophant, sondern begleitete die verschiedenen Entwicklungsstufen des Reichs der Mitte mit dem ihm eigenen kritischen Verstand. Er war nicht ein wirklichkeitsferner, idealistischer Politiker, sondern versuchte immer – innen- wie aussenpolitisch – zu vermitteln. Lee Kuan Yew war ein Vorreiter und Promotor der «asiatischen Werte».
Wirtschaftsliberaler Pragmatiker
Mit Klarsicht analysierte er die internationale Lage. Während des Kalten Krieges stand Singapur stets auf der Seite des Westens. Lee erkannt sowohl den raschen Umschwung des chinesisch-amerikanischen Verhältnisses als auch des gesamten asiatisch-pazifischen Szenarios. Amerikanische Präsidenten, zumal Bush Senior und Junior, Bill Clinton und Barack Obama, suchten und erhielten in der Causa China seinen Rat. Wegen seiner Gewandtheit sowohl in West wie in Ost wurde Lee von Kritikern respektlos als Banane bezeichnet, d.h. aussen gelb und innen weiss.
Die herausragendste Leistung des Pragmatikers Lee: In nur einer Generation hat er den einst dahindämmernden kolonialen Aussenposten Singapur zu einem der reichsten Länder der Welt gemacht, vom armen Entwicklungsland zur reichen Industrienation also. Das Brutto-Inlandprodukt pro Kopf der Bevölkerung beträgt heute nominal rund 50‘000 und kaufkraftbereinigt fast 60‘000 US-Dollar.
Die Richtschnur Lees war immer das Interesse des Insel- und Stadtstaates Singapur. Die Voraussetzungen bei der Unabhängigkeit von Malaysia im August 1965 waren denkbar schlecht: Massenarbeitslosigkeit, knapp an Ackerland, an Rohstoffen und an Wohnraum. Lee Kuan Yew änderte das in seiner Zeit als Ministerpräsident bis 1990 grundlegend zum Besseren mit liberalen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Multinationale Unternehmen und Banken waren und sind willkommen, ebenso ausländische Arbeitskräfte. Nach seinem Rücktritt wirkte Lee, echt chinesisch, «hinter dem Vorhang» als Elder Statesman.
Das Singapur-Modell
Formal eine Demokratie wird die Löwenstadt (vom Sanskrit hergeleitet heisst Singha Löwe und Pura Stadt) halb-autoritär, aber – für einen asiatischen Staat bis heute selten – ohne Korruption regiert. Stabilität, Sauberkeit, Disziplin, Berechenbarkeit sowie Respekt vor den Minderheiten (Malaien 14%, Inder 8% der Bevölkerung) heissen die von Gründervater Lee Zeit seines Lebens praktizierten Maximen. Das viel gepriesene Singapur-Modell fiel in die Zeit, als seit den 1970er-Jahren auch Taiwan, Südkorea und Hong Kong ökonomisch abhoben und bald das Niveau von hoch entwickelten Industriestaaten erreichten. Tiger- oder Drachenstaaten werden seither diese vier Länder bezeichnet.
Das eine oder andere könnte gewiss der von Singapur weit entfernte, ebenfalls rohstoffarme Kleinstaat Schweiz lernen. In der Eidgenossenschaft wird ja gerne und oft über Dichtestress und die vielen Ausländer geklagt. Doch man stelle sich vor: auf 712 Quadratkilometern drängen sich in Singapur sage und schreibe 5,5 Millionen Einwohner, was 7‘700 Einwohner pro Quadratkilometer sind. Noch frappanter die Tatsache, dass fast über dreissig Prozent der Einwohner Ausländer sind. Allein in den letzten fünfzehn Jahren hat sich die Zahl der Ausländer von rund 750‘000 auf 1,6 Millionen erhöht. Nach Trendberechnungen der Regierung soll der Stadtstaat im Jahr 2030 fast sieben Millionen Einwohner zählen, wobei der Zuwachs vor allem von Immigranten bestritten werden soll.
Der Kleinstaat Singapur, so die Überzeugung von Lew Kuan Yew, darf – weil von grossen Nachbarn umgeben – nicht wehrlos sein. Singapur lässt sich das etwas kosten. 4,9 Prozent des Bruttoinlandprodukts werden pro Jahr für die Streitkräfte aufgewendet oder umgerechnet fast 12 Milliarden Franken. Die Wehrpflicht beträgt zwei Jahre. Aktiv sind 50‘000 Soldaten mit einer Reseve von 170‘000 Mann. Die Luftwaffe ist vom Feinsten. Natürlich lässt sich die abgeschlossene Alpenrepublik nicht eins zu eins mit der weltoffenen Inselrepublik am Südchinesischen Meer vergleichen. Schon gar nicht beim Militär – zum Leidwesen wohl von Bundesrat Ueli Maurer und Armeechef André Blattmann mit ihrem jährlichen Budget von fünf Milliarden. Dennoch, das eine oder andere wäre überdenkenswert.
Nach dem Tod von Lee Kuan Yew wird der Finanz- und Wirtschaftshub Singapur wohl weiter wachsen. Doch niemand im heutigen Singapur kann dem charismatischen Lee das Wasser reichen. Auch nicht sein Sohn und jetzige Premierminister Lee Hsien Loong. Die junge Generation ruft unüberhörbar nach mehr Mitsprache. Ein neuer Contrat Social ist überfällig. Das Vermächtnis der Jahrhundertfigur Lee: mutig, flexibel und pragmatisch auf die neuen Herausforderungen eingehen.