Hier, quasi als Halbzeitresultat, eine kleine, nicht repräsentative Auswahl an Streitpunkten und wie damit im Alpenland umgegangen wird.
Wieder einmal ist unser Land gespalten, diesmal in Befürworter und Gegner des heiss umstrittenen EU-Rahmenvertrags. Da die Kreise, die für einen effizienten Aktualisierungsmechanismus auf dem bilateralen Weg mit der EU drängen. Dort u. a. Blochers Volkspartei, die vor einer „Zerstörung der Schweiz“ warnt.
Vorwärts oder rückwärts?
Unglaublich viel wurde in den letzten Jahren geschrieben, diskutiert, erfunden, verteidigt oder frontal angegriffen – immer ging es um den „Rahmenvertrag“. Seit über fünf Jahren. Zur Vorgeschichte: Die Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) sind äusserst eng und gründen auf einem Vertragsnetz, das aus rund 20 zentralen bilateralen Abkommen sowie über 100 weiteren Abkommen besteht.
In den letzten Jahren haben die Schweiz und die EU über ein Abkommen zu institutionellen Fragen verhandelt. Dieses soll eine einheitlichere und effizientere Anwendung bestehender und zukünftiger Marktzugangsabkommen gewährleisten. Am 7. Dezember 2018 entschied der Bundesrat, eine breite Konsultation über den verhandelten Text einzuleiten. Seither „konsultieren“ wir.
Die Wogen gehen hoch. Zwar geht es nur um 35 Seiten, welche die Schweiz spalten und teilweise überfordern. Staatssekretär Roberto Balzaretti, verantwortlich für das Verhandlungsresultat, ist nicht zu beneiden. Er kennt den Vertragsentwurf wohl besser als viele seiner lärmigen Gegner. Seit Monaten erklärt er, warum unsere gegenwärtigen bilateralen Marktzugangsabkommen einen effizienten Aktualisierungsmechanismus brauchen. Schliesslich entwickeln sich die Welt und die Gesellschaft und wohl niemand wird bestreiten, dass auch die Gesetzgebung diesen Entwicklungen Rechnung tragen muss. Für Balzaretti ist dieses Rahmenabkommen deshalb „das Öl, welches das System am Laufen hält“.
Wie seit 30 Jahren ist Christoph Blocher, Übervater seiner Partei, grundsätzlich anderer Meinung. Während Balzaretti vorwärts schaut, orientiert sich Blocher an der Vergangenheit. Wer unsere Souveränität und Neutralität, unseren Föderalismus „einreisst, zerstört die Schweiz“, warnt er. Dass er damit mit seinen eigenen SVP-Regierungsräten in Konflikt gerät (er nennt diese „Anpasser“) stört ihn nicht. Wie eh und je träumt er von der EWR-Abstimmung 1992 und behauptet, „der Rahmenvertrag führt die Schweiz schlussendlich in die EU“. Die Blockade ist total.
Die EU ist kein Rosinen-Lieferant
Noch immer gibt es Politikerinnen und Politiker, auch Professorinnen und Professoren, die sich der Illusion hingeben, die Schweizer Unterhändler hätten nur hart und konsequent mit der EU zu verhandeln, um schliesslich einen massgeschneiderten „Rosinenpicker-Vertrag“ auszuhandeln. Diese Mischung aus Arroganz, Oberflächlichkeit und Illusionsgläubigkeit ist eigentlich erstaunlich. Natürlich gibt es bei jeder Verhandlung problematische Einzelresultate zu akzeptieren; im Gegenzug zu erfreulichen Aspekten, die Applaus verdienen. Ein echter Kompromiss kennt – was Details anbelangt – Gewinner und Verlierer auf beiden Seiten.
Obige Einstellung wird durch sogenannte „repräsentative“ Umfragen der Medien gestärkt. „Das Volk will neue Verhandlungen“, lesen wir (Sonntags Zeitung). „Im Namen des Volkes“ – damit begründen in der Schweiz Meinungsmacher ihre Ansichten seit Jahren.
Vor einiger Zeit hat der Kolumnist Michael Hermann im TA den Zustand unseres Landes so formuliert: „Es führt kein Weg zurück, und es führt kein Weg nach vorn. Wir geben uns der Illusion hin, souverän zu sein und sind doch bloss Gefangene unserer Handlungsunfähigkeit.“ Ein anderer Politbeobachter, Markus Notter von der SP (die SP ist erklärte Gegnerin des Abkommens) meinte im TA-Interview trocken: „Die ganze Debatte wird beim EU-Dossier derzeit auf der falschen Ebene geführt. Statt den Vertragstext zu lesen und die Veränderungen zu diskutieren, redet man über Souveränität, Demokratie, fremde Richter …“
Der Bundesrat regiert …
Im Online-Portal des Bundesrats lesen wir: „Die wichtigste Aufgabe des Bundesrats ist das Regieren. Er schlägt Gesetze vor, beurteilt laufend die politische Lage, legt die Ziele und Mittel des staatlichen Handelns fest, leitet die Umsetzung der Aufgaben und vertritt den Bund nach innen und aussen.“
Seit Monaten vermissen wir einfachen Bürgerinnen und Bürger genau diese bundesrätlichen Führungsqualitäten beim Leadership zum Rahmenabkommen. Ein zerstrittener Bundesrat auf Tauchstation ist nicht, was uns weiterhilft. Hat unser Land überhaupt eine Exekutive in dieser Angelegenheit? Konsultieren ist nicht zu verwechseln mit Regieren. Der Vorschlag des Rahmenabkommens ist ein auf unser Land zugeschnittener Kompromiss – doch noch lässt der Bundesrat keinen Mut zu Führungsstärke erkennen. Böse Zungen behaupten, der Verhandlungsverantwortliche Staatssekretär Roberto Balzaretti spreche seit Monaten Klartext (siehe oben), was man von seinem Ressort-Chef nicht sagen könne – obwohl beide Italienisch als Muttersprache hätten…
Es ist anzunehmen, dass dem Bundesrat klar ist, wie eminent wichtig das gute Verhältnis der „Insel“ Schweiz mitten in Europa mit der EU für uns alle ist. Wenn jetzt da und dort der Eindruck entsteht, Partei- und Verbands-Chefs missbräuchten die aufgeheizte Rahmenabkommens-Diskussion zu wahltaktischen und parteistrategischen Profilierungs-Diskussionen, sollte der Bundesrat dieser Entwicklung dezidiert Einhalt gebieten.
Humor ist, wenn man trotzdem lacht …
Zum Jahresende 2018 brachte DIE ZEIT (Schweizer Seiten) ein Interview mit „… drei der wichtigsten Akteuren der Europa-Debatte“. Valentin Vogt, Präsident des Arbeitgeberverbandes sass Paul Rechsteiner, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, gegenüber, dazwischen Laura Zimmermann als Co-Präsidentin der Operation Libero. Sie beantworteten – in echt helvetischer Manier – die vom Redaktions-Duo vorgetragenen Fragen (die über weite Strecken eine vorgefasste, persönliche Meinung erkennen liessen). Herausragende Statements der drei symbolisierten den nachhaltigen Wert dieser Debatte.
Valentin Vogt: „Der Königsweg für die Schweiz ist der bilaterale Weg […] Die SVP amüsiert sich darüber, dass wir uns hier streiten. Und die Linken reden schon gar nicht mit uns. Das ist ein Niveau, das man sonst nur von den Diskussionen mit den Bauern kennt.“ Paul Rechsteiner: „Cassis und Balzaretti sind diskreditiert. Im Inland und im Ausland.“ Laura Zimmermann auf die Frage des Journalisten „der Vertrag übersteht nie und nimmer eine Volksabstimmung“: „Ich staune, dass alle immer schon zu wissen meinen, was die Bevölkerung denkt. […] Es braucht jetzt eine starke, progressive Mitte, die bereit ist, den europäischen Weg ohne Scheuklappen zu diskutieren.“ Darauf die ZEIT „Aber diese Mitte findet keine Mehrheit.“
Und so erklärten die Herren der Dame die Welt, über die Fragen und Antworten lassen wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, entscheiden. Getitelt war der Beitrag: „Fertig, aus, amen?“ Humor ist, wenn man trotzdem lacht.