Ein Vergleich vor Ort, sechs Jahre nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Singapur, und zwei Jahre nach der endgültigen Rückkehr aus dem Ausland in die Schweiz, bestätigt grundlegende Unterschiede zwischen der politischen Organisation der beiden Ländern. In der Schweiz kennen wir ein ausgeprägtes ‘bottom up’-System wo politische Entscheide meist erst dann fallen, wenn sie von der Basis vorgegeben sind. In Singapur beruhte der ‘contrat social’ bislang auf dem Versprechen stets steigenden Wohlstandes für die meisten der Bürger im Gegenzug zu schnellen, von oben ‘im besten Intresse des Landes’ verfügten Entscheiden einer kleinen Elite.
Trotz dieses Gegensatzes sind beide Länder damit in ihrer jüngeren Geschichte gut gefahren; beide sind zum regionalen Wirtschaftsprimus geworden, jedenfalls ausgedrückt in konventionellen statistischen Globalvergleichen.
Die Früchte der Globalisierung – ungleich verteilt
In beiden Ländern mehren sich indes die Anzeichen, dass die staatstragende Mittelschicht immer unzufriedener wird. Die Preise steigen schneller als die Löhne , jedenfalls erlebt dies die grosse Mehrheit so. Gleichzeitig verdienen immer weniger immer mehr, die Früchte der Globalisierung scheinen ungleich verteilt zu werden. Die Sorge um den Arbeitsplatz nimmt zu angesichts eines kräftigen Zuflusses von unverzichtbaren ausländischen Arbeitskräften.
Unverzichtbar jedenfalls dann, wenn die Annehmlichkeiten des Alltagslebens bestehen bleiben, ja ausgebaut werden sollen. Was für einen Schweizer etwa die weiterhin erstklassige Gesundheits- und Altervorsorge bedeutet, entspricht in Singapur der Selbstverständlichkeit einer billigen ausländischen Haushaltshilfe.
Populistische Tendenzen
Diese Unzufriedenheit schlägt sich in einem Wahl- und Stimmverhalten nieder, welches die bisherigen politischen Garanten des Erfolges - in der Schweiz die Politik einer grossen Koalition seit über 50 Jahren, in Singapur die eine, staatstragende Partei in der fast 50jährigen Geschichte seit der Unabhängigkeit - zunehmend in Frage stellt.
In beiden Ländern verstärken sich populistische Tendenzen, welche die erwähnte Unzufriedenheit auffangen, und auf eigene politische Mühlen leiten wollen. In der Schweiz geschieht dies in der Form einer frontalen Oppositionspolitik der grössten Partei in der traditionellen Koalition, in Singapur versucht die staatstragende Partei mit kleineren und grösseren Beruhigungspillen die Bevölkerung zurückzugewinnen. In der Substanz äussert sich dies in Versuchen, die Einwanderung zu beschränken obwohl dies für die beiden hochspezialisierten und wohlhabenden Volkswirtschaften nur um den Preis einer kräftigen Reichtumseinbusse überhaupt möglich erscheint.
Ableger Schweizerischer Universitäten
Die Bedeutung des Finanzplatzes für die gesamte Volkswirtschaft stellt eine weitere Paralelle dar. Beide Länder wollen und müssen indes mehr sein als attraktive Andockstellen für regionales und globales Anlagekapital. Die Schweiz kann sich dazu auf ihren exportorientierten und hochkompetitiven Werkplatz stützen, ergänzt durch effiziente und stark internationalisierte Ausbildung und Forschung. Singapur hat hier noch Aufholbedarf, der Rückstand verkleinert sich indes rasch. Es sind insbesondere die singapuranischen Hochschulen welche in voller Mutation von reinen Berufsausbildungsstätten zu asiatischen Magneten und Kristallisationspunkten von Forschung und Entwicklung begriffen sind.
Die kompetitivsten unter den schweizerischen Universitäten, nicht zufälligerweise jene am weitesten vorne in den globalen akademischen ‘rankings’, haben dies schon seit einigen Jahren begriffen und sind in Singapur mit eigenen Ablegern präsent. Interessant indes, dass die ETH, Zürich und Lausanne, Singapur als asiatisches Biotop versteht und dort in wenigen Jahren ein sehr substantielles Zentrum mit breiter Forschung in Querschnittsthemen aufgebaut hat. Urbane Entwicklung, resistente Systeme (z.B. rascher Wiederaufbau nach Naturkatastrophen) und nachhaltige Nahrungsmittelversorgung sind solche Themen, welche sich im asiatischen Kontext beispielhaft studieren lassen. Im Gegensatz dazu hat sich die Universität St. Gallen in Singapur bislang auf den Finanzbereich Vermögensverwaltung konzentriert und schöpft so das vollle Potential seiner asiatischen Tochter bei weitem nicht aus.
Aussenwirtschaftspolitik
In diesem Gegensatz spiegeln sich zwei grundlegend verschiedene Antworten auf die nationale Gretchenfrage Singapurs: Spezialfall oder Modell gesamtasiatischer Zukunft. Dies liegt wiederum verblüffend nahe bei der schweizerischen Schicksalsfrage nach Sonderfall oder europäischer Einbettung.
Damit schliesst sich der Kreis zum politischen Beginn des vorliegenden Vergleichs. Beide Länder sind aussenpolitisch stark und zunehmend gefordert; das bisherige Verständnis , in beiden Ländern, die Aussenbeziehungen liessen sich primär auf Aussenwirtschaftspolitik reduzieren hat ausgedient. Aussenpolitisch können die beiden wirtschaftlichen Musterschüler Schweiz und Singapur durchaus noch voneinander lehren.
Bezahlen, um nicht ausgeschlossen zu werden
Singapur glaubt an volle Teilnahme in internationalen Strukturen, um seine nationale Unabhängigkeit im modern Sinne als geteilte Souveränität zu verteidigen. Der Einsatz von substantiellen Mitteln im Ausland als grenzüberschreitende Sozialpolitik und zum Aufbau zukünftiger Exportmärkte , ist dem reichen Stadtstaat andererseits noch fremd. Die Idee von Kohäsionsgeldern im Innern jener asiatischen Struktur, welche sich am ehesten mit der EU in ihrem Frühstadium vergleichen lässt, der ASEAN (Association of South-East Asian Nations), löst Abwehrreflexe aus, welche vom alten Verständnis der Entwicklungshilfe als karitatives Werk herrühren.
In der Schweiz verhält sich dies bekanntlich geradezu umgekehrt. Wir zieren uns ewig, volles Clubmitglied zu werden, bezahlen indes, um nicht von den Vorteilen und Leistungen des Clubs ausgeschlossen zu werden, den vollen Mitgliederbeitrag.