Das muss einmal gesagt sein: Früher war der Fussball besser, spannender, aufreibender, herrlicher, begeisternder, erschütternder. Natürlich können das nur jene Leser und Zeitgenossen kompetent nachvollziehen, die in wesentlichen Teilen noch vor dem Fernseh-Zeitalter sozialisiert worden sind und die grossen Fussball-Ereignisse live am Radio und nicht vor der Flimmerkiste erlebt haben.
Das Ohr am Radio
Ich gehöre zu jenen privilegierten Jahrgängen, die bei der Fussball-WM 1954 in der Schweiz als Zweit- oder Drittklässler über den guten alten Landessender Beromünster mitgefiebert haben. Unser Radio, eine dunkelbraune Holzkiste, war in unserem Wohnzimmer auf einem hohen Schrank postiert. Um ja kein Wort von den Direktreportagen aus dieser Kiste zu verpassen, stieg ich jeweils auf einen Stuhl vor dem Schrank, was mich sozusagen auf Augen- und Ohrenhöhe mit der Reporterstimme brachte.
Und was so ein Fussball-Reporter im empfänglichen Gemüt eines Drittklässlers für Emotionen, Stürme, Bilder, Hoffnungen, Phantasien, Begeisterungen und abgrundtiefe Verzweiflungen freisetzen konnte! Kein Vergleich mit banalen Live-Fernsehbildern, wo die Realität vom Ort des Geschehens eins zu eins abgebildet wird und kein Raum mehr bleibt für eigene Vorstellungswelten und und Phantasie-Wucherungen, die aufgrund der mündlichen Reporter-Schilderungen jeder individuell in seinem Kopf kreiert.
Hommage an Hans Sutter und Jean-Pierre Gerwig
Hier nun ist auch der Ort für eine kleine Hommage an die Radio-Reporter, die meine Fussball-Erinnerungen unvergesslich geprägt haben. In diese Ehren-Galerie gehört unbedingt der legendäre Hans Sutter, dessen nüchterne, mit souverän-sonorer Stimme vorgetragene Berichte über oft dramatische Szenen auf fernen Fussballrasen mich als jugendlichen Radiohörer immer tief beeindruckt haben. Für mich war er damals die Autorität in Sachen Fussball schlechthin. Eine andere, gern gehörte Reporterstimme war diejenige von Jean-Pierre Gerwig. Er liess in seinen Berichten etwas mehr persönliche Emotionen einfliessen, als sein Kollege Suter. Er konnte mitunter in offene Begeisterung ausbrechen oder seinem schweren Ärger über eine verpatzte Chance Luft machen – doch war er einige Minuten später durchaus bereit, allzu parteiische Urteile zu korrigieren und ins rechte Lot von Radio Beromünsterischer Ausgeglichenheit zu bringen.
Zurück zur Fussball-WM 1954 in der Schweiz, die mir – eben weil sie sich ausschliesslich via Radio abspielte – von allen Weltmeisterschaften am lebendigsten in im Gedächtnis geblieben ist. Das dramatischste Spiel war damals für mich natürlich nicht der legendäre Final zwischen Westdeutschland und Ungarn, über das in Deutschland seit Jahrzehnten unentwegt unter dem Titel „Das Wunder von Bern“ geschwärmt und fabuliert wird.
Erlitt Torhüter Parlier einen Hitzschlag?
Nein, die drei Partien, die sich mir in die vitalsten Schichten meines Fussball-Gedächtnisses eingegraben haben, sind erstens die beiden Spiele gegen Italien, die die kleine Schweiz glorreich mit 2:1 und 4:1 gegen die Fussballgrossmacht Italien gewann. Die Schweizer kamen ins Viertelfinal und musste am 26. Juni 1954 bei brütender Hitze in Lausanne gegen Österreich antreten. Sie gingen zunächst 3:0 in Führung, eigentlich schien der Sieg schon beinahe im Sack. Doch die Österreicher verkürzten bis zur Pause das Skore auf 5:4. In der zweiten Halbzeit schlugen sie – Dio mio! – bis zum Schluss die Schweizer mit 7:5 Toren.
Ob dabei alles mit rechten Dingen zugegangen ist, bleibt für mich allerdings fraglich. Denn ich erinnere mich, dass damals der Radioreporter (war es Hans Sutter?) deutlich den Verdacht äusserte, dass unser Torhüter Parlier mindestens in der zweiten Spielhälfte an einem Hitzschlag litt und deshalb die perfiden Weitschüsse der Österreicher nicht mehr in gewohnter Manier parieren konnte. Konnte man ihn nicht auswechseln? Diese Frage beschäftigt mich bis heute – und im Internet habe ich bisher keine Antwort gefunden. Vielleicht weiss einer unserer Journal21-Leser näher Bescheid.
Freudentränen und der Zahn der Zeit
Schliesslich noch eine kleine Einschränkung zu meiner anfangs formulierten These, dass die grossen Fussball-Events, als sie sich für das breite Publikum noch nicht vor dem Fernsehkasten oder am Computer-Bildschirm sondern am Radio abspielten, einfach besser, spannender, überwältigender gewesen seien. Ich muss gestehen, dass ich ein anderes Spiel aus frühen Zeiten, das mir ebenfalls unvergesslich bleibt, bei einer befreundeten Familie am Fernsehen mitverfolgt habe. Das war das Qualifikationsspiel der Schweizer Nationalmannschaft vom November 1961 gegen Schweden in Westberlin. Er ging um die Teilnahme für die Weltmeisterschafts-Endrunde 1962 in Chile.
Das war ein Hochspannungs-Thriller in Schwarz Weiss, den die Schweiz mit 2:1 Toren mit Glück und heldenhaftem Kampfeinsatz gewann. Wir Nachbarsbuben waren total begeistert von diesem Sieg gegen die starken Schweden, warfen Stühle durcheinander vor lauter Ekstase beim zweiten Schweizer Tor und lagen uns am Ende mit Freudentränen in den Armen. In Chile verloren die Schweizer dann leider alle drei Gruppenspiele (gegen die Gastgeber, Deutschland und Italien) und mussten frühzeitig wieder abreisen.
Bei der bevorstehenden WM in Brasilien werde ich mich wohl – mit etwas schlechtem Gewissen – auch der grossen Fernsehgemeinde anschliessen. Die Zeiten der aufwühlenden Fussball-Abenteuer am Radio sind vorbei, selbst wenn sie da und dort noch angeboten werden. Die Gründe für die abnehmenden Gefühlswogen in Sachen WM liegen nicht nur bei der veränderten medialen Vermittlung und dem immer abstossenderen Kommerz-Rummel. Es liegt auch am Zahn der Zeit.